Globaler Artenschwund wird unterschätzt
(MO) Die Vielfalt an Arten und Lebensräumen nimmt weltweit ab. Das Ausmaß dieses Biodiversitäts-Verlustes wird meist erst verspätet erkannt und somit unterschätzt – mit besorgniserregenden Konsequenzen. Wissenschaftler der Universität Wien und des Österreichischen Umweltbundesamtes haben die Mechanismen ergründet, die zu dieser verzögerten Wahrnehmung führen. Um die fatale Entwicklung zu stoppen, mahnen die Autoren eine nachdrückliche Umsetzung nationaler und globaler Bemühungen zum Schutz der natürlichen Vielfalt an.
Der vom Menschen verursachte Verlust an Arten und Lebensräumen hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch beschleunigt. So führt die neueste globale Rote Liste der Pflanzen- und Tierarten, die im Juni 2015 von der Welt-Naturschutzorganisation IUCN veröffentlich wurde, 22.784 Arten als gefährdet an. „Die Ursachen des Artenrückgangs sind vielfältig“, sagt der Erstautor der österreichischen Studie, Dr. Franz Essl. Als wichtigste Faktoren nennt Essl die Zerstörung von naturnahen Lebensräumen durch Rodung von Wäldern, Flussregulierungen, Entwässerung von Feuchtgebieten sowie die Verschleppung von Arten in andere Erdteile mit fatalen Folgen für die heimische Fauna und Flora.
„Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Artenrückgang fokussieren auf einzelne Umweltveränderungen. Dabei bleiben die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gefährdungsursachen unberücksichtigt“, betont Franz Essl. Die von ihm geleitete Studie bietet erstmals einen Überblick über alle bekannten Ursachen und belegt ganz klar, dass gerade das Zusammenspiel mehrerer Faktoren – wie Lebensraumverlust, Klimawandel und Verschleppung von Tieren und Pflanzen – den Artenschwund massiv beschleunigen kann. Zudem zeigt die Untersuchung, dass das ganze Ausmaß des weltweiten Biodiversitätsverlustes erst mit einer Verzögerung von vielen Jahren bis Jahrzehnten sichtbar wird. Viele Arten existieren heute nur noch isoliert in Schutzgebieten. Sie seien daher permanent vom Erlöschen bedroht, wenn nur eine einzige weitere Gefährdung – wie der Klimawandel – hinzukomme, so Essl.
Einzelne Gefährdungen können die Biodiversität auf mehreren Ebenen beeinträchtigen. So zieht etwa der Verlust von Teilen eines Habitats häufig qualitative Veränderungen im verbleibenden Habitat nach sich oder verhindert eine Vernetzung mit ähnlichen Habitaten – und leitet damit den Verlust von Genen, Populationen, Arten und Lebensräumen ein. In letzter Konsequenz sind auch die Lebensgrundlagen von Menschen in Gefahr, jedoch zeigt sich dieser drastische Effekt erst mit einer Verzögerung von mehreren Jahrzehnten. „Ohne es zu merken, nehmen wir Menschen stets den Zustand der Umwelt als gegeben hin, den wir anzutreffen gewohnt sind, und achten kaum auf Veränderungen gegenüber früheren Zeiten. So wird das Abnormale zum Normalen“, schreiben die Autoren der Studie und mahnen zu mehr Bewusstsein für die schleichende, aber dramatische Verschlechterung unserer Lebensbedingungen. Ihr Fazit: Um die verzögerten Effekte besser zu verstehen, sollten langfristige ökologische Monitoring-Netzwerke wie GLORIA oder ILTER stärker ausgebaut werden. Vor allem aber müssten nationale und globale Biodiversitätsziele mit äußerstem Nachdruck umgesetzt werden. Die Europäische Union hat zum Ziel gesetzt, den Verlust der Artenvielfalt bis 2020 zu stoppen. Doch damit dies gelingt, müssen dringend mehr Schutzgebiete ausgewiesen, die Einschleppung und Ausbreitung von invasiven Arten verhindert sowie bei allen Arten der Landnutzung Naturschutzbelange stärker einbezogen werden. Nur so könne der Rückgang der Biodiversität aufgehalten und seine gravierenden Folgen für Mensch und Natur gemildert werden.
Mehr:
Essl, F. et al. (2015): Delayed biodiversity change: no time to waste. – Trends in Ecology and Evolution 30(7): 375–378; www.dx.doi.org/10.1016/j.tree.2015.05.002.
Essl, F. et al. (2015): Historical legacies accumulate to shape future biodiversity in an era of rapid global change. – Diversity and Distributions 21(5): 534–547; DOI: 10.1111/ddi.12312.
GLORIA = Global Observation Research Initiative in Alpine environments; www.gloria.ac.at.
ILTER = International Long Term Ecological Research; www.ilternet.edu.
Zitiervorschlag: Offenberger, M. (2015): Globaler Artenschwund wird unterschätzt. – ANLiegen Natur 37/2; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/artenschwund/.