Bayerische Gymnasiasten kennen kaum heimische Vogelarten
(Monika Offenberger) In den vergangenen zehn Jahren ist die Artenkenntnis bayerischer Kinder und Jugendlicher weiter gesunken. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt der Vergleich einer aktuellen Studie mit entsprechenden Daten aus dem Jahr 2007. Besonders alarmierend sind die Ergebnisse der beteiligten G8-Gymnasiasten: Sie schnitten deutlich schlechter ab als Gleichaltrige, die ein Jahrzehnt zuvor das damalige G9 besuchten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, fordern die Autoren verbindliche Lehrplanvorgaben zur Vermittlung von Artenkenntnis und eine stärkere Verzahnung von schulischer und außerschulischer Umweltbildung.
Der Buchfink zählt zu unseren häufigsten Singvögeln. Besonders das Männchen ist an seiner kontrastreichen Färbung – blaugraue Kopfkappe, rotbraune Brust und Wangen, schwarz-weiße Schwingen – leicht zu erkennen. Dennoch ist die Art unter Schulkindern und Jugendlichen so gut wie unbekannt. Mit dem Foto eines männlichen Buchfinken konfrontiert, konnten nur 14 Prozent der befragten Gymnasiasten seinen Namen nennen. Noch weniger bekannt war nur der Erlenzeisig. Leichter taten sich die Befragten mit der männlichen Amsel. Der tiefschwarze Vogel mit dem leuchtend gelben Schnabel ist drei von vier bayerischen Gymnasiasten ein Begriff. Anders gesagt: Jede/r vierte Jugendliche konnte selbst diesen „Allerweltsvogel“ nicht korrekt benennen. Den Spatz kannten lediglich ein Drittel der jungen Testpersonen.
Die aktuelle BISA-Studie – das Kürzel steht für „Biodiversität im Schulalltag“ – ist die zweite ihrer Art in Bayern und im gesamten deutschen Sprachraum. Sie wurde von einem Team um Thomas Gerl erstellt, der am Ludwig-Thoma-Gymnasium in Prien am Chiemsee Biologie unterrichtet und zudem am Institut für Didaktik der Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München forscht. Knapp 2.000 bayerische Schüler zwischen 10 und 19 Jahren wurden von Gerl und seinen Kollegen getestet, darunter 1.400 Gymnasiasten. Die Aufgabe bestand darin, 15 häufige einheimische Singvogelarten anhand von Fotos zu benennen. Die Ergebnisse wurden anschließend mit der 2007 durchgeführten BISA-Studie verglichen und ausgewertet. Damals waren den Probanden anstelle von Fotos echte präparierte Vögel gezeigt worden und das Akronym stand für den sperrigen Titel „Bird Identification Skill Assessment“. Der Leiter dieser ersten BISA-Studie, Professor Volker Zahner, ist Wildtierökologe an der Hochschule Weihenstephan und hat auch an der aktuellen Studie mitgewirkt.
Während 2007 pro Regierungsbezirk jeweils rund 800 Kinder und Jugendliche aus Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien getestet wurden, nahmen 2018 überwiegend Besucher von Gymnasien an der Studie teil; statistisch gesicherte Aussagen lassen sich daher nur beim Vergleich von Teenagern dieses Schultyps treffen. Dabei zeigt sich: Ähnlich wie 2007 haben Jugendliche in einem Alter von etwa fünfzehn Jahren die beste Artenkenntnis. Auch die Rangliste der bekanntesten Vogelarten ist innerhalb von zehn Jahren mehr oder weniger gleichgeblieben. Damals wie heute führt die Amsel die Liste an. Ihr folgen Rotkehlchen und Blaumeise, die Schlusslichter bilden Grün- und Buchfink sowie der Erlenzeisig. In beiden Studien schnitten Mädchen jeden Altes im Durchschnitt besser ab als Jungen; sie erkennen im Mittel eine Art mehr als ihre Klassenkameraden. In der Gruppe mit sehr großer Artenkenntnis ist der Anteil der Mädchen und Jungen aber ähnlich. „Eine schlüssige Erklärung für diesen Geschlechtsunterschied haben wir nicht. Die besseren Ergebnisse der Mädchen deuten wir als Folge ihrer höheren Bereitschaft, sich intensiv mit einem nicht notenrelevanten Fragebogen auseinanderzusetzen“, sagt Thomas Gerl.
Geändert hat sich seit der ersten BISA-Studie das Ausmaß der Unkenntnis. So kennen bayerische Gymnasiasten heute mit durchschnittlich 5 von 15 abgefragten Vogelarten fast eine Art weniger als vor zehn Jahren. Für Überraschung sorgte ein deutlicher Stadt-Land-Unterschied: Anders als in der ersten BISA-Studie konnten die 2017 befragten Schüler in Metropolregionen wie München oder Augsburg mehr Vogelarten korrekt bestimmen (im Mittel 6,7 Arten) als Gleichaltrige aus ländlichen Gegenden (6,1) und Kleinstädten (5,2). Als mögliche Ursachen diskutieren die Autoren, dass in Großstädten lebende Familien generell ein größeres Interesse an Natur- und Umweltthemen zeigen. Dazu kommt die Tatsache, dass in urbanen Regionen inzwischen mehr Vogelarten und -individuen leben und zu beobachten sind als in ländlichen Gebieten, wo die intensive landwirtschaftliche Nutzung den dramatischen Rückgang der Biodiversität vorantreibt.
Thomas Gerl sieht das schlechte Testergebnis als Ansporn: „Ich bin in erster Linie Lehrer, nicht Tester. Wenn unsere Schüler hier große Lücken haben, dann müssen wir uns eben mehr anstrengen, diese Lücken zu schließen.“ Das könne durchaus mit den klassischen Formen des Unterrichts gelingen, so Gerl: „Die Amsel wird im Biologieunterricht häufig als Paradebeispiel für einen Vogel durchgenommen. Entsprechend präsent war sie dann beim Test. Das zeigt, dass schon was hängenbleibt.“ Umgekehrt lassen sich die Wissensdefizite heutiger Teenager wohl auch auf die reduzierten Lerninhalte des achtjährigen Gymnasiums zurückführen. Im G9, welche die Testgruppe aus dem Jahr 2007 besuchte, waren noch alle fünf Wirbeltierklassen zu unterrichten – darunter ausdrücklich die Vielfalt der einheimischen Vogelwelt. Im G8, das dem Biologieunterricht insgesamt weniger Wochenstunden einräumte, sollten die Lehrkräfte neben den Säugetieren nur noch zwei weitere Wirbeltierklassen thematisieren – welche, blieb ihnen überlassen. Bestimmungsübungen bei Vögeln sah der Lehrplan nicht vor.
Die Rückkehr zum G9 lässt hoffen. „Im neuen LehrplanPLUS wird der Artenkenntnis wieder mehr Gewicht eingeräumt“, betont Thomas Gerl. Außerdem muss es künftig in jedem Schuljahr verpflichtend eine Tages-Exkursion geben, um Ökosysteme wie Grünland, Gewässer, Böden oder bewirtschaftete Systeme wie Wald und Acker kennenzulernen. Fachinformationen zum Thema Grünland und didaktische Tipps für den Unterricht im Freien inklusive Musterbriefe für die Eltern finden die Lehrkräfte in einem neu erstellten Ordner, dessen Inhalte mit dem Kultusministerium abgestimmt sind. Erarbeitet wurde die umfangreiche Materialsammlung von Experten der ANL, des Instituts für Schulqualität und Bildungsforschung München und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalentwicklung in Dillingen an der Donau. Seit Dezember 2018 finden Lehrkräfte und Schüler eine Vielzahl an Lernmaterialien, Spielen und Informationen über Vögel und andere heimische Tiere und Pflanzen auch auf der Internetseite www.bisa100.de.
Wozu sollte ein Teenager überhaupt die heimischen Vogelnamen kennen? Thomas Gerl kontert mit einer Gegenfrage: „Warum sollten sich unsere Kinder für den Erhalt einer Art einsetzen, die sie gar nicht kennen? Wenn wir so weitermachen, wird bald niemand mehr merken, welche Arten aussterben.“ Deshalb sei es dringend geboten, die nachkommende Generation für die Formenvielfalt und Lebensweise unserer Wildtiere und -pflanzen zu begeistern, so der Biologe. Dabei gehe es nicht um lexikalisches Wissen, sondern um eine emotionale Bindung, betont sein Kollege Volker Zahner: „Wir wollen nicht Artenkenntnis, sondern Arteninteresse fördern. Denn nur was ich kenne, nehme ich überhaupt wahr. Wenn ich zum Beispiel den Hausrotschwanz kenne und diesen Zugvogel jetzt plötzlich den ganzen Winter am Futterhaus sehe, dann kommen Fragen auf. Da muss sich was geändert haben mit unserem Klima, da mache ich mir Sorgen – nicht nur um den Vogel, sondern um die Welt, in der ja auch ich selber lebe. Dann betrifft mich das persönlich. Und diese Betroffenheit bringt die Leute zum Nachdenken und schließlich zum Handeln.“ Der Ornithologe ist überzeugt: „Dass in Bayern 19 Prozent der Bevölkerung für das Volksbegehren gestimmt haben, zeigt die Betroffenheit der Menschen darüber, dass Insekten und Vögel sterben und die Landschaft verarmt.“
Neben der schulischen Umweltbildung kommt auch der außerschulischen Förderung von Artenkenntnis und -interesse eine wichtige Rolle zu. Auch dies ist ein Ergebnis der aktuellen BISA-Studie. Demnach kennen Schüler, die über einen Nistkasten im Garten verfügen oder eine Vogelfütterung betreuen, durchschnittlich 1,3 respektive 1,7 Arten mehr als solche ohne diese Optionen und bilden damit die Gruppe mit der größten Artenkenntnis. Teenager, die sich aktiv an der von NABU und LBV organisierten „Stunde der Wintervögel“ beteiligt haben, kennen sich mit Abstand am besten aus und bestimmen im Mittel 7,7 der 15 gezeigten Vogelarten richtig. „Meine Vision ist es, außerschulische und schulische Umweltbildung zusammenzuführen“, sagt Thomas Gerl. Doch momentan laufen diese beiden Angebote nebeneinander her. Beim runden Tisch, den Markus Söder gerade einberufen hat, ist das Kulturministerium nicht vertreten. „Ich wünsche mir eine Koordinierungsstelle aus Lehrern, Umweltpädagogen, Förstern, Landwirten und weiteren Akteure, die gemeinsam Projekte entwickeln, die Jugendliche ansprechen und zugleich dem Lehrplan gerecht werden“, so Gerl. Unter dieser Bedingung sei auch der Vorschlag des bayerischen Umweltministers Thorsten Glauber zu begrüßen, im gesamten Freistaat flächendeckend Umweltstationen einzurichten, meint der Biologe: „Dieser Vorstoß wird umso mehr Erfolg haben, wenn Lehrkräfte und Fachleute ihre Kompetenzen bündeln und die schulische und außerschulische Umweltbildung besser koordinieren.“
Das Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt ist in der Bayerischen Verfassung in Artikel 131 und dem Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG Artikel 1) verankert. Somit gehören der Natur- und Umweltschutz zu den obersten Bildungszielen. Bereits im Jahr 2008 wurde mit dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung in der Bayerischen Biodiversitätsstrategie ein bildungspolitisches Ziel vorgegeben: Wissen über die biologische Vielfalt muss stärker als bisher gefördert, als zentrale Lebensgrundlage verstanden und bei relevanten Entscheidungen berücksichtigt werden (BAYSTMUGV 2008). Es ist damit Aufgabe der Schulbildung, die naturwissenschaftliche Grundbildung zu verbessern. Schüler sollten naturwissenschaftliche Daten und Informationen mithilfe wissenschaftlicher Herangehensweisen bewerten können, um daraufhin evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Die aktuelle BISA-Studie zeigt auf, dass es hinsichtlich der Schulbildung deutlich höherer Anstrengungen bedarf, um dieses Ziel zu erreichen.
Mehr:
BayStMUGV (= Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz; Hrsg. 2008): Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt in Bayern (Bayerische Biodiversitätsstrategie). – München; www.stmuv.bayern.de/themen/naturschutz/biodiversitaet/doc/biodiv_strategie_endfass06_2009_ba1.pdf.
BISA100.de bietet Lernmaterialen und Spiele zur Verbesserung der Artenkenntnis: www.bisa100.de.
Gerl, T. et al. (2017): Artenkenntnis einheimischer Vögel – Biodiversität im Schulalltag (BISA). – Biologie in unserer Zeit 47: 254–259.
Gerl, T. (2017): Outdoor und Online – Naturbeobachtung 2.0. – Biologie 5–10(22), Friedrich Verlag: 42–45.
Gerl, T. et al. (2018): Der BISA-Test: Ermittlung der Formenkenntnis von Schülerinnen und Schülern am Beispiel einheimischer Vogelarten. – Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 295 (5564), 2367b; DOI: 10.1007/s40573-018-0086-7.
Technische Universität München (2019): OECD Programme for International Student Assessment (PISA). – www.pisa.tum.de/kompetenzbereiche/naturwissenschaftliche-kompetenz/.
Zahner, V. et al. (2007): Vogelarten-Kenntnis von Schülern in Bayern. – Vogelwelt 128: 203–214.
Offenberger, M. (2019): Bayerische Gymnasiasten kennen kaum heimische Vogelarten. – ANLiegen Natur 41/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/bisa/.
Zum Volltext-Download:
ANLiegen Natur 41/1 (2019): 6 Seiten als Volltext herunterladen (pdf barrierefrei 0,5 MB).