Riesiger Datenfundus zu heimischen Brutvögeln
(AZ) Zwei weitverbreitete Redewendungen müssen aufgrund der Ergebnisse des „Atlas Deutscher Brutvogelarten“ korrigiert werden: So muss „Du hast ja wohl einen Vogel“ dahingehend revidiert werden, dass eigentlich jeder mindestens zwei hat. Denn, so ein Ergebnis der über 10 Jahre dauernden Untersuchungen, auf jeden Einwohner Deutschlands kommt rund ein Vogel-Pärchen, da hierzulande rund 80 Millionen Vogelpaare brüten. Auch „Du hast ja wohl ´ne Meise“ sollte so abgewandelt werden, dass man eher einen Buchfinken oder eine Amsel hat, denn die mit Abstand häufigsten Arten Deutschlands sind der Buchfink und die Amsel, gefolgt von der Kohlmeise. Zusammen mit 19 weiteren Arten machen sie 80 % aller in Deutschland brütenden Vögel aus und sind weit verbreitet. Beeindruckend, die Vielzahl unserer gefiederten Freunde!
Doch dies nur am Rande. Insgesamt wird schnell deutlich, dass mit dem „Atlas Deutscher Brutvogelarten“ wieder einmal ein höchst bemerkenswerter Meilenstein in der bundesweiten Bearbeitung einer Artengruppe vorgelegt wurde. Keiner anderen Gruppe wird es in absehbarer Zeit gelingen, so flächendeckend und mitarbeiterreich eine Artengruppe zu kartieren. Und allein wer schon einmal mit mehr als zwei Autoren an einem Werk geschrieben hat, kann grob erahnen, was es für eine Leistung ist, derart viele Personen, Daten und Informationen zu koordinieren und zu einem guten Ergebnis zusammenzuführen. Im Endeffekt flossen in den Atlas für die 280 in Deutschland brütenden Vogelarten rund 80 Millionen Brutpaar-Daten von mehr als 4.000 ehrenamtlich Mitarbeitenden, 300 neue Vogelzeichnungen und zahlreiche Modellierungen ein, die in mehr als 400.000 zumeist ehrenamtlichen Arbeitsstunden zusammengetragen wurden. Dabei zeichnen aus meiner Sicht auch gerade die Modellierungen das Werk aus, da mir derartige Anwendungen/Auswertungen bislang aus Atlanten nicht bekannt sind. Doch über räumliche Statistik war es möglich, die Daten verlässlich auf eine Gesamtfläche zu bringen und eine Einschätzung der Datenqualität zu erreichen. Dabei zeigte sich eine sehr gute Erfassungsqualität nahezu aller 280 beschriebenen Arten: Zumeist wurden mehr als 75 % der Bestände erfasst und nur bei acht Arten ist der Bearbeitungszustand als „nicht zufriedenstellend“ einzustufen, bei lediglich 31 Arten wird er als „moderat“ beschrieben.
So entstand ein sehr umfassendes Werk, das nahezu auf alle Fragen des ornithologischen Brutgeschäfts eine Antwort geben kann und sogar auch planungsrelevant ist, weshalb es in keiner Eingriffsbehörde fehlen sollte: Die europäische Vogelschutzrichtlinie verlangt unter anderem den Schutz der europäischen Brutvogelarten. Inzwischen gibt es zwar einige teils sehr gute Arbeitshilfen zur Bewertung der Vogelarten, doch zur Einschätzung der Brutvögel bei einem baulichen Eingriff bietet dieses Werk eine sehr gute ergänzende Bewertungsgrundlage. So findet man in dem Werk nicht nur Kartendarstellungen zur Verbreitung der Arten, sondern auch einen riesigen gerichtsfesten Detail-Datenpool. So wurden die Daten nicht „nur“ zusammengetragen, sondern zudem statistisch bearbeitet und projektintern validiert. Somit kann man allein aus den Datenseiten für jede Art herausfinden, wie der Brutbestand in Deutschland ist, wo sich regionale Verbreitungsschwerpunkte finden und wie groß der deutsche Gesamtbestand ist. Zudem bekommt man eine fundierte Einschätzung der Bestandsentwicklung, die in Zusammenhang mit der Aufteilung der Brutvogelarten auf die Bundesländer und in Kombination mit der kleinen Karte der weltweiten Verbreitung die Verantwortung einzelner Regionen für den Erhalt des deutschen Bestandes eindeutig abschätzen lässt. Damit ist klar, welche Arten in welchen Regionen bei Planungen besonders zu berücksichtigen sind. Und das allein auf Grundlage der visuell dargestellten Daten. Dazu kommen aber immer noch die zahlreichen Zusatzinformationen aus den Artbeschreibungen, die weitgehend auf eine Erläuterung des Brutbestandes und der Bestandsentwicklung fokussieren. Dabei ist es hervorragend gelungen, in die sehr knappen Texte neben den regionalisierten Kartierergebnissen zusätzlich noch 2.100 Literaturzitate einzuarbeiten. Damit liegt mit aus meiner Sicht die mit Abstand beste summarische Bearbeitung einer Organismengruppe für die Gesamtfläche Deutschlands vor.
Ein paar spannende Ergebnisse fasst zudem die Presseinformation zu dem Werk zusammen, die nicht vorenthalten werden sollen: Insgesamt besiedelt ein Fünftel aller einheimischen Brutvogelarten mehr als 90 % der Landesfläche Deutschlands. Auf der anderen Seite brüten knapp 100 Arten auf weniger als 10 %, von denen viele stark gefährdet sind. Auch deutliche Bestandsabnahmen sind erkennbar sowie ein Rückzug zahlreicher Arten aus der Fläche. Betroffen sind vor allem Arten des Feuchtgrünlandes, aber auch solche des zunehmend industriell bewirtschafteten Ackerlandes. Teilweise sind diese Arten regional oder lokal bereits aus der Landschaft verschwunden. Daraus ergibt sich die klare Handlungsaufforderung an alle gesellschaftlichen Akteure, den in den letzten Jahren beschleunigten Niedergang selbst ehemals häufiger Vogelarten der Normallandschaft umgehend wieder zu verlangsamen oder gar umzukehren. Taten statt Warten (!), denn Vogelarten sind Indikatoren für die Entwicklung der Artenvielfalt und die Landschaftsqualität insgesamt. Vielleicht wäre es ein Ansatz, wenn jeder Kartierende einen Bekannten an die Hand nimmt und ihn überzeugt, auf seiner Ebene aktiv zu werden. Sich auf dem tollen Ergebnis „auszuruhen“, wird vermutlich zu wenig sein.
Ein „must-have“-Grundlagenwerk, das Maßstäbe setzt und einen eindeutigen Handlungsauftrag in sich birgt.
Mehr:
Kai Gedeon et al. (2014): Atlas Deutscher Brutvogelarten. – Stiftung Vogelwelt Deutschlands und Dachverband Deutscher Avifaunisten: 800 Seiten, ISBN-13: 978-3-981-55433-5, 98,00 Euro; www.dda-web.de.
Zitiervorschlag: Zehm, A. (2015): Riesiger Datenfundus zu heimischen Brutvögeln. – ANLiegen Natur 37/2; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/brutvogelatlas/.