Städtische Grünzüge versus kompakte Siedlungsentwicklung? Das Konzept der grünen Finger im Klimawandel
(Emily Hehn) Die kompakte Stadtentwicklung galt lange als Ideal, um eine Zersiedelung der umliegenden Landschaft zu vermeiden. Gleichzeitig werden im Zuge des Klimawandels und der Klimaanpassung Grünflächen immer wichtiger, besonders als Frischluftschneisen und zur Wärmeabsenkung. Lindau am Bodensee und Osnabrück zeigen, wie wichtig verzahnte Grünzüge als „grüne Finger“ in einer klimaresilienten Stadt sind.
Immer mehr Städte erleben einen enormen Flächendruck. Bislang galt eine kompakte Siedlungsentwicklung in Städten als ideal, um die umliegende Landschaft zu schonen. In der Stadt Lindau am Bodensee sind aber auch sogenannte Landschaftsfinger fester Bestandteil der Stadtplanung und -entwicklung. Fünf Grünzüge ziehen sich wie Finger radial von außen bis weit ins Stadtinnere hinein. Bereits 2008 wurden die Flächen im Landschaftsplan als wertvolle Freiräume charakterisiert und 2013 zum Teil in den Flächennutzungsplan integriert. In einem Gesamtstädtischen Freiraumkonzept (Teil des Integrierten Städtebaulichen Entwicklungskonzepts [ISEK]) hat die Stadt Lindau 2016 die Strukturen, Funktionen und Potenziale der Landschaftsfinger genauer analysiert.
Besonders für das Stadtklima bilden die Landschaftsfinger wichtige Frischluftschneisen. Sie verbinden das Bodenseeufer mit dem Hinterland und verhindern so das Zusammenwachsen des Siedlungsgürtels. Geprägt sind die Flächen vor allem von intensivem Obstbau, Ackerbau und Grünland aber auch von Gehölzen und Auenwäldern in Bachnähe.
Für die Naherholung bieten die Landschaftsfinger großes Potenzial, das in Zukunft über ein verzweigtes Wegenetz besser genutzt werden soll. Ein Hauptziel des Freiflächenkonzeptes ist es, das stark frequentierte Bodenseeufer zu entlasten und das landschaftlich schöne Hinterland zugänglicher und erlebbarer zu machen. Nur durch eine Nutzungs- und Erholungsmöglichkeit wird auch der Lindauer Bevölkerung der Wert der grünen Finger bewusst.
Das Freiraumkonzept ist zunächst nur ein informelles Planungsinstrument ohne rechtliche Bindungskraft. Das Grundprinzip von großen, freizuhaltenden Grünflächen im Siedlungsgebiet und der Nachverdichtung der bereits bebauten Bereiche wird jedoch in allen Planungsinstanzen mitgedacht und berücksichtigt. Auch in der Bauleitplanung findet das Freiflächenkonzept Verstetigung. Die Landschaftsfinger sollen in Zukunft durch ökologische und ästhetische Aufwertung weiterentwickelt werden.
Als Mittel zur konkreten Umsetzung dient zum Beispiel das Instrument des Städtebaulichen Vertrages (Baugesetzbuch), mit dem Maßnahmenträger eines Wohngebietes an den Kosten für die Realisierung von Maßnahmen aus dem Freiflächenkonzept beteiligt werden können. Auch Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sollen in den Landschaftsfingern umgesetzt werden. Die Stadt Lindau besitzt bereits Flächen in den Landschaftsfingern, überlegt aber, in Zukunft weitere zu erwerben. Somit enthalten die „Fünf grünen Finger“ auch Potenzialflächen für das Ökokonto. Die Weiterentwicklung der Landschaftsfinger ist eine Chance, Lindau klimaresilient zu erhalten und als lebenswerte und attraktive Stadt weiterzuentwickeln.
Weitere Informationen unter: www.stadtlindau.de/
Gesamtstädtisches Freiflächenkonzept: www.stadtlindau.de/media/custom/2715_30_1.PDF?1461658476
In Osnabrück arbeitet man daran, dass die „Grünen Finger“ als wertvolle und schützenswerte Strukturen verstärkt anerkannt werden. Insgesamt 10 Grünzüge ragen in das Stadtgebiet hinein, die nicht zufällig entstanden sind. Bereits 1926 ließ der damalige Stadtbaurat einen Grünflächenverteilungsplan erstellen, nach dem natürliche Grüngebiete außerhalb der Stadt mit den innerstädtischen Grünflächen verbunden werden sollten. Nach einem landschaftsplanerischen Fachbeitrag wurden Teile der Flächen 2001 als von Bebauung freizuhaltenden Bereiche in den Flächennutzungsplan eingetragen. Trotz dieser langen stadtplanerischen Entstehungsgeschichte sind die Grünen Finger Osnabrücks heute durch den enormen Nutzungsdruck von Überbauung bedroht.
Um die Grünzüge auch in Zukunft zu erhalten und ihren Wert zu verdeutlichen wurde 2018 das Forschungsprojekt „Produktiv. Nachhaltig. Lebendig. Grüne Finger für eine klimaresiliente Stadt“ ins Leben gerufen. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Die Hochschule Osnabrück und die Stadt Osnabrück arbeiten bis Mai 2022 an einem Konzept zur Sicherung und Entwicklung der Grünen Finger, unter anderem auf Basis einer landschaftsplanerischen Raumanalyse. Hierzu wurde der Austausch mit einer breiten Akteurs- und Interessengruppe realisiert. Durch gemeinsame Raumerkundungen, künstlerische Wahrnehmungswerkstätten, Workshops und Runde Tische konnten Entwicklungs- und Nutzungsmöglichkeiten, Herausforderungen und Leitsätze erarbeitet werden. Durch die vielfältigen Beteiligungsformate ist es gelungen, ein Bewusstsein für die Grünen Finger Osnabrücks bei der Bevölkerung, aber vor allem auch bei politischen Entscheidungsträgern, zu schaffen. Die Grünen Finger sind nun stark im sogenannten Stadtgespräch integriert. Die Ergebnisse aus Analyse und Beteiligung werden in Szenarien konkretisiert und sollen schließlich in einem Entwicklungskonzept zu den Grünen Fingern verstetigt werden.
Weitere Informationen unter: https://gruene-finger.de/projekt/
und www.osnabrueck.de/gruen/natur-und-landschaft/landschaftsplanung/gruene-finger
Fazit:
Sicher ist es kein leichter Abwägungsprozess – Umgebende Landschaft versus städtisches Grün: Beide Beispiele zeigen, dass die Radien der Siedlungsfläche sich deutlich vergrößern, wenn Grünzüge integriert werden. Wenn Teile der Grünen Finger weiter für Land- und Forstwirtschaft genutzt werden können, geht durch die radialen Grünstrukturen jedoch kaum Bewirtschaftungsfläche verloren. Die Lebensqualität in der Stadt steigt, wenn die Grünzüge ökologisch sinnvoll gestaltet und für die Bevölkerung nutzbar werden. Gerade angesichts des Klimawandels liegt im Konzept der Grünen Finger ein großes Potenzial.
Emily Hehn (2022): Städtische Grünzüge versus kompakte Siedlungsentwicklung? Das Konzept der grünen Finger im Klimawandel. – ANLiegen Natur 44/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/gruene-finger/.
Zum Download der Notizen in der Rubrik Stadtökologie:
ANLiegen Natur 44/1 (2022): 10 Seiten als Volltext herunterladen (pdf barrierefrei 0,9 MB).
Ist ein sehr interessanter Artikel. Veranlasst mich als Stadtratsmitglied in Erding Ihnen einen Hinweis auf die Stadtentwicklung und Grünzugentwicklung im Rahmen des FNP und ISEK-Programms der Stadt Erding zu geben und Ihnen eine vergleichende Beobachtung zu empfehlen. Ich denke, wir sind dabei ebenfalls gut in einem ökologisch, klimafreundlichen Prozess seit vielen Jahren und das mit sehr guten Ergebnissen.
Beste Grüße Burkhard Köppen, Vors. CSU-Stadtratsfraktion
Das „grüne Finger Konzept“ gibt es z.B. in skandinavischen Ländern schon seit ca. 200 Jahren. Ein gutes Beispiel dafür ist Kopenhagen. Ebenso wie das „Schwammstadt“ Konzept. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, einfach mal über den Tellerrand schauen.