Globales Insektensterben in nie gekanntem Ausmaß
(Monika Offenberger) Weltweit geht die Insektenfauna in erschreckendem Tempo und Ausmaß zurück. 41 Prozent aller Insektenarten könnten schon in wenigen Jahrzehnten aussterben, die übrigen sind von starken Populationseinbußen bedroht. Zu dieser Einschätzung kommen australische Forscher nach der Analyse dutzender Studien, die Verbreitung und Häufigkeit verschiedener Insektengruppen im Zeitverlauf erforschten. Die Autoren werten ihre Befunde als sechstes Massensterben der Erdgeschichte. Sie sehen die Hauptursache für den Rückgang der Biodiversität in der weltweit intensiv betriebenen Landwirtschaft und mahnen dringend einschneidende Agrarreformen an.
„Wenn wir unsere Methoden zur Erzeugung von Lebensmitteln nicht ändern, werden die Insekten in ihrer Gesamtheit binnen weniger Jahrzehnte den Weg des Aussterbens gehen. Auf die Ökosysteme der Erde wird dies, gelinde gesagt, katastrophale Auswirkungen haben. Denn Insekten bilden seit ihrem Erscheinen vor fast 400 Millionen Jahren am Ende des Devons die strukturelle und funktionelle Basis vieler Ökosysteme der Welt.“ Dieses alarmierende Fazit ziehen Francisco Sánchez-Bayo und Kris A. G. Wyckhuys nach der Analyse aller relevanten Publikationen der vergangenen 40 Jahre, die den Rückgang der Insektendiversität in unterschiedlichen Regionen der Welt untersucht hatten. Die Daten beziehen sich überwiegend auf Europa und Nordamerika, weil von dort die meisten historischen Aufzeichnungen über das Artenspektrum vorliegen und Vergleiche mit der aktuellen Situation erlauben. Die umfangreiche Metastudie, für die insgesamt 653 Studien gesichtet und davon die 73 aussagekräftigsten ausgewertet wurden, zeichnet ein alarmierendes Bild vom Zustand unseres Planeten.
Bislang stand die Bedrohung von Säugetieren und Vögeln im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses und der öffentlichen Wahrnehmung. Dagegen waren Studien über die Biodiversität von Insekten und deren Rückgang unterrepräsentiert – obwohl diese Klasse der Wirbellosen mit rund einer Million beschriebener Arten zwei Drittel aller Tiere ausmacht und damit eine tragende Rolle für die Stabilität und Leistungsfähigkeit von Ökosystemen einnimmt. Dies änderte sich erst 2017 mit Bekanntwerden der Krefeld-Studie: Sie belegt einen Rückgang der Biomasse von Fluginsekten in mehreren westdeutschen Naturschutzgebieten von schockierenden 76 Prozent über einen Zeitraum von nur 27 Jahren. Das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang der Biomasse – und damit an Individuen verschiedenster Insektenarten – von 2,8 Prozent pro Jahr. Dieser vermeintlich geringfügige Verlust wäre bei einmaliger Betrachtung vermutlich gar nicht aufgefallen oder als statistische Schwankung angesehen worden. Seine ganze Tragweite kam erst durch das fast drei Jahrzehnte währende Monitoring ans Licht.
Eine 2018 veröffentlichte Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen im Regenwald von Puerto Rico: Binnen 36 Jahren ging dort die Biomasse der am Boden und im Kronendach lebenden Arthropoden zwischen 78 und 98 Prozent zurück; das entspricht jährlichen Verlusten zwischen 2,2 und 2,7 Prozent. Parallel dazu beobachteten die Forscher in der untersuchten Region einen ähnlich starken Rückgang von Vögeln, Fröschen und Reptilien. Für Europa und Nordamerika verzeichnen verschiedene Studien bei einzelnen Insektengruppen wie Schmetterlingen, Marienkäfern, Libellen, Steinfliegen und Wildbienen sogar einen stärkeren Rückgang als er im jeweiligen Zeitraum bei Vögeln oder Pflanzen zu beobachten war. Unter Einbeziehung aller Studien kommen die Autoren zu der Einschätzung, dass 41 Prozent aller Insektenspezies von so starken Populationseinbußen betroffen sind, dass sie innerhalb weniger Jahrzehnte aussterben könnten. Angesichts des hohen Anteils, den Insekten an der globalen Biomasse und Artenzahl einnehmen, bezeichnen Sánchez-Bayo und Wyckhuys diese Entwicklung nach den fünf Faunenschnitten der Erdgeschichte als „das sechste große Massenaussterben mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensformen auf unserem Planeten.“
Einzelne Insektentaxa sind besonders stark bedroht, darunter die Dungkäfer des Mittelmeerraumes, von denen mehr als 60 Prozent aller Spezies kurz vor dem Aussterben stehen. Etwa die Hälfte aller anderen Käfer- und Schmetterlingsarten gehen in ihrem Bestand kontinuierlich um durchschnittlich 1,8 bis 2 Prozent pro Jahr zurück. Und jedes Jahr rutschen bislang stabile Arten auf die Liste derer, die bedenklich schrumpfen. Jede sechste Wildbiene ist in einigen Regionen, wo sie vormals vorkam, inzwischen ausgerottet. Noch stärker als die terrestrischen Insekten trifft es aquatische Arten. Die Verluste sind in tropischen Regionen ähnlich hoch wie in den gemäßigten Breiten; allerdings gingen nur drei Studien aus den Tropen in die Metastudie ein und lassen daher keine statistisch gesicherten Aussagen zu. Innerhalb der gemäßigten Breiten sind die höchsten Verluste in Großbritannien dokumentiert, wo 60 Prozent aller Insektenarten stark zurückgehen, gefolgt von Nordamerika (51 Prozent) und Kontinentaleuropa (44 Prozent); alle anderen Weltregionen zeigen geringere Verluste von durchschnittlich 23 Prozent der dortigen Insektenarten.
Als besonders besorgniserregend werten die Autoren den Befund, dass vom Schwund der Arten und Individuen nicht nur Spezialisten mit engem Wirtsspektrum oder speziellen ökologischen Ansprüchen betroffen sind, sondern auch ehemals weitverbreitete Generalisten. Dies zeige, dass die Ursachen des Insektensterbens nicht an spezielle Habitate gebunden seien, sondern ganz allgemeine Bedürfnisse von Insekten beträfen. Zwar werde der Wegfall spezieller Arten in vielen Fällen durch – häufig auch invasive – „Allerweltsarten“ kompensiert. Inwieweit diese dann weniger vielfältigen bis uniformen Lebensgemeinschaften wichtige Ökosystemleistungen übernehmen könnten, sei aber ebenso wenig geklärt wie die Frage nach der Stabilität von Nahrungsnetzen und der allgemeinen ökologischen Resilienz der betroffenen Lebensgemeinschaften.
Der Großteil des Artenschwundes geht auf menschliche Aktivitäten zurück, die sich direkt (etwa durch die chemische Bekämpfung von Schadinsekten oder die Überdüngung von Magerstandorten und Gewässern) oder indirekt (durch Lebensraumverlust nach Entwaldung, Flächenversiegelung oder -kultivierung) gegen die Entomofauna und die von ihr abhängigen Tier- und Pflanzenarten richtet. Eine wesentliche Ursache sehen die Autoren aber in der seit sechs Jahrzehnten stetig zunehmenden Intensivierung der Landwirtschaft. Sie ziele durch den Einsatz synthetischer Pestizide unmittelbar auf die Vernichtung von Insekten ab und schädige damit das natürliche Gefüge ganzer Ökosysteme. Folgerichtig fordern die Autoren eine Kurskorrektur in der globalen Landwirtschaft, um das massive Artensterben zu stoppen. Dringend geboten sei die Restaurierung von Habitaten, eine Rückbesinnung auf naturverträglichere Bewirtschaftungsmethoden und vor allem die drastische Reduzierung von Agrochemikalien, so die Wissenschaftler: „Nur unter diesen Bedingungen können sich die Myriaden eigenständigen Arten wieder ansiedeln, die lebenswichtige Ökosystemleistungen erbringen, indem sie Abfall verwerten, Nährstoffe recyceln, Nahrung für Fische und andere Wassertiere bereitstellen sowie Kulturpflanzenschädlinge und Moskitos in Zaum halten.“
Mehr:
Sánchez-Bayo, F. & Wyckhuys, A. G. (2019): Worldwide decline of the entomofauna: A review of its drivers. – Biological Conservation 232 (2019) 8–27; https://doi.org/10.1016/j.biocon.2019.01.020.
Hallmann, C. A., Sorg, M., Jongejans, E. et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. – PLoS ONE 12(10): e0185809; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809.
Offenberger, M. (2019): Globales Insektensterben in nie gekanntem Ausmaß. – ANLiegen Natur 41/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/insektensterben_global/.
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