Die Sonne geht im Norden auf – „7. Jugendreport Natur“ dokumentiert Wissenslücken über Naturphänomene
(Monika Offenberger) Anlass zur Sorge liefert eine Studie über die Naturkenntnisse deutscher Schulkinder. Für den „Jugendreport Natur“ – er wurde seit 1997 zum 7. Mal erstellt – füllten 1.253 Sechs- und Neuntklässler aus Nordrhein-Westfalen einen Fragebogen aus. Die Auswertung enthüllt gravierende Wissenslücken und eine zunehmende Entfremdung von der Natur. So wussten zwei Drittel der Befragten nicht, dass die Sonne im Osten aufgeht, und nur jeder Achte kannte mehr als zwei heimische Waldfrüchte. Bei der letzten Befragung vor sechs Jahren waren noch deutlich mehr korrekte Antworten gegeben worden. Mit einem „Bayerischen Trialog zur Biodiversität“ will die Staatsregierung gemeinsam mit Naturschutzverbänden dieser Entwicklung entgegenwirken und mehr Jugendliche für Belange des Natur- und Artenschutzes gewinnen.
In welchem Monat geht die Sonne am spätesten unter? Wie viele Eier kann ein Huhn pro Tag legen? Wie heißt das männliche Schwein? Wie oft bist du im vergangenen Sommer durchschnittlich im Wald gewesen? Diese und weitere Fragen hatten der Physiker und Soziologe Rainer Brämer (Universität Marburg), der Biologie-Didaktiker Hubert Knoll (Universität Köln) und der zertifizierte Waldpädagoge Hans-Joachim Schild den Schulkindern gestellt. An der Studie nahmen etwa gleich viele Mädchen und Buben aller Schultypen teil, die zur Hälfte auf dem Land oder in Städten wohnten; drei Viertel von ihnen sprachen Deutsch als Muttersprache.
Die gute Nachricht zuerst: 40 Prozent der befragten Mädchen und Buben halten sich nach eigenen Angaben mindestens einmal pro Woche im Wald auf, weitere 20 Prozent immerhin ein bis dreimal im Monat. „Daran hat sich in den vergangenen zehn Jahren kaum etwas geändert“, schreiben die Autoren und stellen fest: „Die verbreitete Vermutung, dass immer weniger junge Menschen Erfahrung mit dem Wald haben, wird durch diese Zahlen widerlegt“. Allerdings hat sich gegenüber früheren Erhebungen das Verhältnis zum Wald geändert: Nur ein Drittel der Schulkinder hält sich gern allein darin auf; vor zehn Jahren war das noch mehr als die Hälfte. Dazu dürften neben eigenen Ängsten wohl auch die Sorgen der Eltern beitragen. Während jedes zweite Landkind sich ohne Einschränkungen auch unbeaufsichtigt in der Natur aufhalten kann, darf die Mehrzahl der Stadtkinder nur ins Freie, wenn sie ein Handy, Freunde oder einen Erwachsenen dabeihaben. Auch das Wissen über den Wald und seine Bewohner schwindet. So konnten nur 12 Prozent der Schulkinder die Aufgabe lösen: „Nenne drei essbare Früchte, die bei uns im Wald oder am Waldrand wachsen“; doppelt so vielen fiel dazu gar nichts ein. Am häufigsten wurden Brombeeren, Himbeeren, Blau-beeren oder einfach „Waldbeeren“ notiert; mit großem Abstand folgten Nüsse, Bucheckern und Pilze. Manch einer vermutete Äpfel, Birnen, Weintrauben oder sogar exotische Früchte wie Bananen, Mango, Ananas oder Kokosnuss in unseren Wäldern.
Ist diese Unkenntnis der heimischen Flora womöglich dem Migrationshintergrund von immerhin einem Viertel der befragten Jungen und Mädchen geschuldet, in deren Herkunftsländern oft andere Früchte wachsen als bei uns? Diese Möglichkeit ziehen die Autoren nicht in Betracht. Auch die Formulierung der Fragen mag das Ergebnis verzerrt haben: So dürften außer Botanikern und Poeten nur die wenigsten Bürger, gleich welchen Alters, Pilze und Nüsse als „Früchte“ des Waldes bezeichnen. Fragwürdig scheinen auch die vorgegebenen Aussagen zur Waldnutzung. „Der Wald soll regelmäßig gepflegt werden“ wird dort als Option zum Ankreuzen angeboten – und unter der Rubrik „Das ist eher nützlich für den Wald“ lauten zwei der insgesamt drei Vorschläge „Bäume pflanzen“ beziehungsweise „Den Wald sauber halten“. Wie die Auswertung durch die Autoren ergab, „halten es 89 % der Befragten für wichtig, Bäume zu pflanzen, obwohl das bislang vor allen Dingen mit dem Ziel geschah, diese dann auch von nachfolgenden Generationen ernten zu lassen. Das scheint die Jugend des 21. Jahrhunderts völlig aus den Augen verloren zu haben. Viel wichtiger ist es ihr dagegen, den Wald im Stile einer schwäbischen Hausfrau zu pflegen. Dazu gehört natürlich in allererster Linie Sauberkeit – eine seit Jahren geradezu unumstößliche Überzeugung“.
Hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Studienleiter durch ihre vorgegebenen Formulierungen genau jenes „verklärte“ Bild von Natur vermitteln, das sie dann den Jugendlichen unterstellen und anprangern. Doch jenseits von teils ungeschickten Fragen und überzogenen Interpretationen zeigt der 7. Jugendreport ganz klar, dass es immer mehr Jugendlichen an persönlichen Erfahrungen und elementaren Kenntnissen über Natur mangelt. So wusste nur ein Drittel der befragten Mädchen und Jungen, wo die Sonne aufgeht. Vor sechs Jahren waren es noch fast zwei Drittel; ein Fünftel meinte gar, die Sonne gehe im Norden auf. Ebenso deutlich ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Wer sich oft in der Natur aufhält, erfährt und lernt auch erheblich mehr über die dort lebenden Arten als Kinder, die den Großteil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. So hatten zwei Drittel der Kinder, die sich häufig im Wald aufhalten – aber nur halb so viele von den selteneren Besuchern – im vorigen Sommer Fledermäuse beobachtet. Bei der ersten Gruppe stammt das Wissen um die Natur hauptsächlich aus eigener Beobachtung, bei der anderen dagegen aus dem Schulunterricht.
Mit dieser allgemeinen Naturentfremdung geht auch der Verlust von Artenkenntnis einher. So belegt eine 2016 vom Bund Naturschutz vorgelegte Studie der Artenschutz-Experten Kai Frobel und Helmut Schlumprecht eine „Erosion der Artenkenner“. Demnach sind immer weniger Laien in der Lage, Pflanzen, Tiere und andere Organismen in der freien Natur zu bestimmen. Die meisten Artenkenner sind heute bereits 60 bis 80 Jahre alt; nur 7,6 Prozent sind 30 Jahre oder jünger. Bald wird eine ganze Generation von Artenkennern fehlen, um unsere heimische Biodiversität zu erkennen, zu beschreiben und angemessen zu schützen. Um hier gegenzusteuern, hat die Bayerische Umweltministerin Ulrike Scharf im Herbst 2016 erstmals einen „Bayerischen Jugendgipfel Biodiversität“ einberufen, um einen Dialog zwischen Jugendlichen und Naturschutz-Experten zu initiieren. Am 18. November 2017 treffen sich nun zum zweiten Mal Jugendliche mit Vertretern diverser Naturschutzvereine und Behörden zum „Biodiversitäts-Trialog 2017“ in Ingolstadt. Die Tagung soll naturbegeisterten Jugendlichen die Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit Experten/innen und Fachverbänden geben und ihnen ehrenamtliche und berufliche Arbeitsfelder für Artenkenner in Bayern aufzeigen.
Mehr:
Erste Ergebnisse des „7. Jugendreport Natur 2016“ fasst eine 16-seitige Broschüre zusammen unter: www.wanderforschung.de/files/jugendreport2016-web-final-160914-v3_1609212106.pdf.
Frobel, K. & Schlumprecht, H. (2016): Erosion der Artenkenner. Naturschutz und Landschaftsplanung 48(4), 105–113; www.bund-naturschutz.de/fileadmin/Bilder_und_Dokumente/Themen/Tiere_und_Pflanzen/Erosion_der_Artenkenner/Erosion-der-Artenkenner.pdf.
Hintergrundinformationen über den „Bayerischen Trialog zur Biodiversität 2017“ in Ingolstadt finden Sie unter: http://naju-bayern.de/fileadmin/user_upload/Programm/Jugendliche/flyer_trialog.pdf.
Der bundesweite „Jugendkongress Biodiversität 2017“, veranstaltet von Bundesumweltministerium, Bundesamt für Naturschutz und Deutscher Bundesstiftung Umwelt, fand im Juni 2017 in Osnabrück statt: www.bmub.bund.de/service/veranstaltungen/details/event/jugendkongress-biodiversitaet-2017/.
Offenberger, M. (2018): Die Sonne geht im Norden auf – „7. Jugendreport Natur“ dokumentiert Wissenslücken über Naturphänomene. – ANLiegen Natur 40/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/jugendreport_natur/.