Mehr Ausnahmen bei Eingriffsvorhaben in Natura 2000-Gebieten
(Paul-Bastian Nagel) Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH C-521/12) vom 15. Mai 2014 konkretisiert die Abgrenzung von Schutz- und Kohärenzsicherungsmaßnahmen in Natura 2000-Gebieten. Ersatzhabitate zum Ausgleich von Beeinträchtigungen in Natura 2000-Gebieten können nicht als Schutzmaßnahmen im Sinne von Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG anerkannt werden, sondern setzen eine Ausnahme nach Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie voraus. Entsprechende Aktivitäten sind damit als Kohärenzsicherungsmaßnahmen einzustufen. Durch das Urteil wird der Schutzstatus von Natura 2000-Gebieten gestärkt. Gleichzeitig wird es vermehrt zu Ausnahmeverfahren kommen, was den Prüf- und Verwaltungsaufwand erhöht. FÜSSER & LAU (2014) schlagen daher vorgezogene Kohärenzsicherungsmaßnahmen in Maßnahmenpools vor.
Die Prüfung der Verträglichkeit eines Autobahnbauvorhabens in dem niederländischen Natura 2000-Gebiet „Vlijmens Ven, Moerputten en Bossche Broek“ wurde dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Im Kern ging es um die Frage, ob eine Ausgleichsmaßnahme, hier die Schaffung eines Ersatzhabitates, in die Entscheidung über die Verträglichkeit des Vorhabens einfließen darf. Diese Frage wurde verneint. Nach der Begründung zum Urteil können Ersatzhabitate eine Betroffenheit der Erhaltungsziele oder der für den Schutzweck maßgeblichen Bestandteile nicht vermeiden helfen, da durch diese eine mögliche erhebliche Beeinträchtigung nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann und die Wirksamkeit der Maßnahme zum Zeitpunkt des Eingriffs nicht sichergestellt ist. Daher können entsprechende Maßnahmen für die Flora-Fauna-Habitat-Verträglichkeitsprüfung (FFH-VP) nicht herangezogen werden, sondern können nur bei Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen als Kohärenzsicherungsmaßnahmen anerkannt werden.
Das vorgestellte Urteil nehmen FÜSSER & LAU (2014) zum Anlass, Vermeidungsmaßnahmen und Kohärenzsicherungsmaßnahmen in Hinblick auf ihre Umsetzungsanforderungen zu beleuchten. Nur Vermeidungsmaßnahmen können mögliche erhebliche Beeinträchtigungen nach § 34 Absatz 2 Bundesnaturschutzgesetz mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen helfen. Vermeidungsmaßnahmen können in der Verträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden, weil sie im Gegensatz zu Kompensationsmaßnahmen bereits bei den Auswirkungen des Vorhabens ansetzen, diese abmildern und so die geforderte Integrität des Schutzgebietes bewahren helfen. Ist die Vermeidungsmaßnahme für die Verträglichkeitsprüfung entscheidungsrelevant, muss der Erfolg der Maßnahmen nachweislich sichergestellt sein.
Entsprechend strenge Anforderungen an die Wirksamkeit gelten nicht für Kohärenzsicherungsmaßnahmen, für die bereits eine „hohe Erfolgswahrscheinlichkeit“ für eine Anerkennung ausreicht. Daher und aufgrund der zu unterstellenden Entwicklungszeit und Prognoseunsicherheit können Kohärenzsicherungsmaßnahmen nicht schon bei der Verträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden, sondern erst in einer möglichen Abweichungsentscheidung. Hier sind entsprechende Kompensationsmaßnahmen zur Sicherung der Kohärenz dann jedoch obligatorisch. Damit gehen die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Folgenbewältigung in Natura 2000-Gebieten sogar über die des Artenschutzrechtes hinaus, da vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen (CEF-Maßnahmen) hier schon im Rahmen der sogenannten Legalausnahme nach § 44 Absatz 5 Bundesnaturschutzgesetz zulässig sind und damit keine Ausnahme nach § 45 Absatz 7 Bundesnaturschutzgesetz erforderlich sein muss.
Kompensationsmaßnahmen könnten entsprechend des EuGH-Urteils nach Auffassung der Autoren lediglich dann schon in der FFH-Verträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden, wenn sie vorgezogen durchgeführt werden und nachweislich zum Zeitpunkt des Eingriffs bereits ihre Wirkung entfaltet haben. Vorgezogen oder nicht, müssen Kohärenzsicherungsmaßnahmen jedoch hohe Anforderungen an den Funktionsbezug erfüllen: Die Aufwertung muss „erhaltungszielgegenständlich“ sein. Damit werden gleichzeitig auch die Anforderungen an den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang der Maßnahmen funktionsbezogen konkretisiert. Grundsätzlich ist die Kohärenzsicherung auch innerhalb der betroffenen Natura 2000-Gebiete denkbar, sofern sie über die gebietsschutzrechtlichen Verpflichtungen hinausgehen. Sie können aber auch außerhalb des Gebietes realisiert werden, wenn die ökologische Kohärenz des Natura 2000-Netzes vollständig erhalten bleibt. Dabei müssen die Maßnahmen zum Zeitpunkt des Eingriffs nach Möglichkeit wirksam sein, wobei zeitliche Verzögerungen im Einzelfall hinnehmbar sind, solange keine irreversiblen Schäden entstehen. Diese Einschränkung gilt selbstverständlich nicht, wenn die Maßnahme bereits vorgezogen durchgeführt und als Schutzmaßnahme in der FFH-Verträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden soll. In diesem Fall muss die Maßnahme zum Zeitpunkt der Prüfung bereits ihre volle Wirkung entfaltet haben.
Der angeregten zeitlichen Entkopplung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen steht nach Auffassung der Autoren materiell- und verfahrensrechtlich nichts entgegen. Sie bietet die Möglichkeit, durch einen vorgezogenen Ausgleich die Verfahren zu entlasten, da auf diesem Wege auf eine Ausnahmeprüfung verzichtet werden könne. Vorgezogene Kohärenzsicherungsmaßnahmen könnten in Maßnahmenpools nach § 16 BNatSchG integriert werden. Dabei müssten die Maßnahmen jedoch einen engen Bezug zu den nicht vermeidbaren erheblichen Beeinträchtigungen des Eingriffsvorhabens haben, was sich wohl nur in Ausnahmefällen entsprechend vorausschauen lässt.
Bedeutung für die Praxis
Das Urteil des EuGH ist insbesondere für Infrastrukturprojekte wie Straßen, Schienen oder Stromleitungen relevant, da hier regelmäßig ein überwiegendes öffentliches Interesse unterstellt wird und alternative Streckenführungen aufgrund anderer Rechtsvorschriften ausgeschlossen sein können. Unabhängig davon müssen bei der Entscheidung, ob eine mögliche Ausnahme nach Artikel 6 Absatz 4 in Frage kommt, die zu erwartenden Beeinträchtigungen des Natura 2000-Gebietes mit in die Abwägung eingestellt werden. Grundsätzlich ist ähnlich wie im Artenschutzrecht durch die Klarstellung des EuGH davon auszugehen, dass Ausnahmen auch bei kleineren Projekten mehr und mehr zur Regel werden, da allein durch Vermeidungsmaßnahmen erhebliche Beeinträchtigungen von Natura 2000-Gebieten nur selten mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Grundsätzlich stellt sich daher auch hier die Frage, ob eine Genehmigungspraxis in Natura 2000-Gebieten, die auf die Erteilung von Ausnahmen begründet ist, vom Gesetzgeber intendiert ist.
Die von FÜSSER & LAU (2014) vorgeschlagene zeitliche Entkopplung der Kohärenzsicherungsmaßnahmen vom konkreten Eingriff und die Integration der „erhaltungszielgegenständlichen Aufwertung“ in Maßnahmenpools könnte durchaus die Verfahren erleichtern bei denen Natura 2000-Gebiete betroffen sind und naturschutzfachlich eine sinnvolle Alternative darstellen. Im Gegensatz zu den vorgezogenen Ausgleichsmaßnahmen nach Artenschutzrecht (sogenannte CEF-Maßnahmen), könnten vorgezogene Kohärenzsicherungsmaßnahmen bereits „auf Verdacht“ für Natura 2000-Gebiete geplant werden. Denn aufgrund des ubiquitären Geltungsbereiches des besonderen Artenschutzrechtes, der Verteilung der besonders geschützten Arten sowie den Anforderungen an eine räumliche Nähe der CEF-Maßnahmen zu den betroffenen Individuen, sind CEF-Maßnahmen oftmals erst dann realisierbar, wenn ein konkretes Vorhaben geplant wird. Die räumliche Nähe zum betroffenen Natura 2000-Gebiet ist zwar auch bei Kohärenzsicherungsmaßnahmen anzustreben, aufgrund der räumlich konkreten Abgrenzung der Gebiete scheint eine vorausschauende Planung hier jedoch eher möglich. Gleichzeitig besteht allerdings die Sorge, dass der hohe Schutzstatus von Natura 2000-Gebieten durch vorgezogene Kohärenzsicherungsmaßnahmen faktisch ausgehöhlt werden könnte. Zunächst sind vorgezogene Kohärenzsicherungsmaßnahmen in Maßnahmenpools aber nur ein Gedankenspiel und für die Praxis noch nicht relevant. Dennoch wird abzuwarten sein, ob sich aus diesem interessanten Fachbeitrag von FÜSSER & LAU auch praktische Anwendungsbeispiele ergeben.
Mehr:
Urteil des EuGH vom 15.05.2014 (C-521/12); http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=152343&doclang=DE.
FÜSSER, K. & LAU, M. (2014): Maßnahmenpools im europäischen Gebietsschutzrecht. – Natur und Recht 36(7): 453–463; www.fuesser.de/fileadmin/dateien/publikationen/manuskripte/A-Fuesser-Lau-Pool-75320-110614-korr.pdf.
MÖCKEL, S. (2014): Natura 2000: Ausgleichsmaßnahmen führen nicht zur Verträglichkeit. – Natur und Landschaft, 89(8): 377–378.
Zitiervorschlag: Nagel, P.-B. (2015): Mehr Ausnahmen bei Eingriffsvorhaben in Natura 2000-Gebieten. – ANLiegen Natur 37/1, S. 93–94; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/kohaerenzsicherung/.
Weiterführende Informationen zu dem Thema finden Sie in diesem Artikel von SCHÜTTE et al.:
SCHÜTTE, P.; WITTROCK, E. & FLAMME, J. (2015): Schadensminderungs- und Ausgleichsmaßnahmen zur Kohärenzsicherung nach „Briels u.a.“ – Natur und Recht 37: 145-152.
Die Zusammenfassung und weitere Informationen finden sich unter:
http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10357-015-2787-8#
Redaktion ANLiegen Natur – 15.04.2015