Groß-Schutzgebiete als letzte Refugien: Die Nachtfalter der Berchtesgadener Alpen
(Monika Offenberger) Im Nationalpark Berchtesgaden und seiner Umgebung kommen mit mehr als 500 Arten deutlich mehr als die Hälfte aller Nachtfalter Bayerns vor. Dies geht aus einer Auswertung von rund 18.000 Falterbeobachtungen in unterschiedlichen Habitaten hervor. Der Vergleich mit älteren Belegen zeigt: Das Artenspektrum der Nachtfalter hat sich in den letzten 50 Jahren nur wenig verändert. Die Studie weist damit die enorme Bedeutung von großen Schutzgebieten als Refugien für unsere heimischen Tiere und Pflanzen nach.
Die Nachtfalter (Macroheterocera) bilden die artenreichste Gruppe der Großschmetterlinge. Zu ihnen gehören unter anderem die Eulen (Noctuidae), Schwärmer (Sphingidae), Spanner (Geometridae) und Spinner (Bombycoidea). Aus den Nördlichen Kalkalpen lagen zu dieser Insektengruppe bislang allerdings nur punktuelle und zumeist ältere Aufzeichnungen vor. Deshalb dokumentierte von 1997 bis 2014 Dr. Walter Ruckdeschel (bis 1996 Präsident des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz) die Vorkommen der Nachtfalter im Gebiet des Nationalparks Berchtesgaden. Bis zu seinem plötzlichen Tod wirkte auch Ludwig Wihr an diesem ehrenamtlichen Projekt mit.
Die etwa 80 Probestellen liegen in allen Höhenzonen des Nationalparks und in den angrenzenden Gebieten außerhalb. Sie umfassen verschiedene Waldtypen, Feucht- und Moorgebiete, Kalkschutthalden, offene felsdurchsetzte Flächen sowie die alpinen Rasen mit Latschen oberhalb der Baumgrenze. Dazu kommen Waldweideflächen und bewirtschaftete Almen sowie einige Flächen, die sich infolge von Windbrüchen und Borkenkäferbefall in unterschiedlichen Stadien der Sukzession befinden.
Die Feldbeobachtungen erbrachten insgesamt 8.800 Datensätze mit rund 18.000 Einzeldaten. Sie belegen das Vorkommen von 509 Nachtfalterarten. Weitere 104 Arten konnten zwar nicht nachgewiesen werden, sind aber im Projektgebiet zu erwarten. Diese 613 Arten stellen 59 Prozent der bayerischen Nachtfalterarten dar und belegen damit die enorme Bedeutung der Berchtesgadener Berge als Insektenlebensraum.
Der Nationalpark beheimatet 53 der insgesamt 61 aus den Nördlichen Kalkalpen bekannten „Gebirgsarten“ und stellt damit ein überregional hochbedeutsames Gen-Reservoir dar. Auch das Vorkommen der übrigen Nachtfalterarten ist stark von der Höhenlage abhängig.
Für eine positive Überraschung sorgte der Vergleich zwischen dem aktuellen und ehemaligen Artenspektrum des Projektgebietes. Entsprechende Daten liefern Literaturangaben sowie im Bestand der Zoologischen Staatssammlung München befindliche Funde, die zumeist aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen. Demnach hat sich das heutige Artenspektrum innerhalb der vergangenen 50 Jahre nur wenig verändert. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu dem dramatischen Insektensterben, das in der jüngeren Fachliteratur dokumentiert ist. Sie erklärt sich daraus, dass im Nationalpark und in den angrenzenden Gebirgsstöcken weite Gebiete nicht bewirtschaftet oder aber nur durch traditionelle Formen der Alm- und Forstwirtschaft genutzt werden.
Die herausragende Bedeutung dieser Regionen für den Artenschutz belegt der hohe Anteil seltener und gefährdeter Arten: Von den 613 erfassten Nachtfaltern sind 160 Arten in der Roten Liste Deutschland und 126 in der Roten Liste Bayern aufgeführt; 38 von ihnen sind akut gefährdet (Kategorien 1–3). Bekräftigt wird die Bedeutung des Gebietes für den Artenschutz durch 112 dort nachgewiesene Tagfalterarten. Mit insgesamt 725 Großschmetterlingsarten ist das Berchtesgadener Bergland mit seinen Tälern ein Hotspot für diese Insektengruppe.
Ruckdeschels umfangreicher Datensatz erlaubt auch Rückschlüsse auf den Einfluss natürlicher und vom Menschen verursachter Störungen. Die Wirtschaftswiesen und Almflächen im Nationalpark und seinem Umfeld tragen nur wenig zur Artenvielfalt der Nachtfalter bei. Äußerst förderlich ist dagegen die Waldweide auf einem ausgedehnten Gebiet im unteren Teil des Klausbachtals: Die extensive Beweidung hält den Wald offen für eine vielfältige Bodenvegetation und bildet mit 203 nachgewiesenen Nachtfalterarten das artenreichste Gebiet des Nationalparks. „Aus entomologischer Sicht ist daher zu wünschen, dass die Beweidung in Waldgebieten, die nicht als Schutzwald dienen, aufrechterhalten wird“, so das Fazit des Forschers. Als besonders artenreich erwies sich auch eine 1990 vom Orkan Wibke verursachte Windbruchfläche: Dort fanden sich zahlreiche andernorts fehlende Nachtfalterarten. Die dort aufwachsende blütenreiche Hochstaudenflur bietet den Schmetterlingen und vielen anderen Tieren Schutz und Nahrung.
Angesichts der hohen Verluste an Arten und Individuen in weiten Teilen der genutzten Landschaften zeigt diese Studie die enorme Bedeutung von großen Schutzgebieten als Refugien für unsere heimischen Tiere und Pflanzen. Dynamische Prozesse und extensive Nutzung spielen dabei eine wichtige Rolle.
Mehr:
RUCKDESCHEL, W. (2016): Die Nachtfalter des Nationalparks Berchtesgaden und seiner Umgebung. – Forschungsbericht 56, Hrsg. Nationalparkverwaltung Berchtesgaden.
RUCKDESCHEL, W. (2018): Die Nachtfalter der Berchtesgadener Alpen. – Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt, 83. Jahrgang: 1–16.
Offenberger, M. (2020): Groß-Schutzgebiete als letzte Refugien: Die Nachtfalter der Berchtesgadener Alpen. – ANLiegen Natur 42/2; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/nachtfalter-np-bgd/.
Zum Volltext-Download:
ANLiegen Natur 42/2 (2020): 6 Seiten als Volltext herunterladen (pdf barrierefrei 0,6 MB).
Vom Ergebnis her hochinteressant und zugleich aufschlußreich für ein strategisches Vorgehen und Handeln im amtlichen Naturschutz.