Bayerns Fliegen und Mücken sind weitgehend unerforscht
(Monika Offenberger) Dipteren bilden mit knapp 10.000 bekannten Spezies Deutschlands artenreichste Insektengruppe. Dennoch werden Fliegen und Mücken in der Biodiversitätsforschung und im Naturschutz bisher stark vernachlässigt. DNA-Barcoding soll die aufwendige Artbestimmung der Zweiflügler erleichtern. Dazu haben Experten der Zoologischen Staatssammlung München in ganz Bayern Dipteren gesammelt, ihre DNA untersucht und so 5.200 Arten erfasst. Weil es an kundigen Taxonomen mangelt, ließ sich bislang nur etwa knapp die Hälfte davon einer bekannten Art zuordnen.
2009 wurde von der Zoologischen Staatssammlung München (ZSM) das Projekt „Barcoding Fauna Bavarica“ initiiert. Das ehrgeizige Ziel: Langfristig sollen sämtliche in Deutschland heimischen Tiere, Pilze und Pflanzen mittels genetischer Methoden schnell und zuverlässig der richtigen Art zugeordnet werden können. Für eine eindeutige Bestimmung genügen kleine Abschnitte bestimmter Gene, die in jedem Organismus vorkommen, aber artspezifische Unterschiede aufweisen. Sie lassen sich wie ein Barcode nutzen und ermöglichen neben der Identifizierung bekannter Arten auch die Entdeckung und Klassifizierung unbekannter Arten.
Um festzulegen, welcher Barcode für welche Art steht, braucht es Referenzen. Ob Braunbär, Buche oder Birkenporling: Jede Spezies muss durch sogenannte Voucher-Exemplare aus Haut und Haaren respektive Blatt und Blüte oder Hut und Sporen vertreten sein. Diese Vouchers, deren Artzugehörigkeit zuvor von Taxonomen anhand körperlicher Merkmale eindeutig festgelegt wurde, dienen als Vergleichsmaßstab für die Zuordnung. Sie werden mit einer ID versehen, fotografiert und in einer öffentlich zugänglichen Sammlung aufbewahrt. Zusammen mit Angaben zum Fundort, Datum, Sammler und weiteren Informationen wandert das Foto in eine Datenbank namens „Barcode of Life Data Systems“, kurz BOLD.
Seit Projektbeginn wurden an der ZSM die DNA-Barcodes von mehr als 23.000 deutschen Tierarten erfasst, die meisten davon Insekten. Große Lücken gebe es aber ausgerechnet bei deren artenreichster Gruppe, den Zweiflüglern oder Dipteren, beklagt Dieter Doczkal, der seit 2011 am Barcoding-Projekt mitwirkt. Um die notwendigen Referenzen zu bekommen, hat der Dipteren-Experte zwischen 2011 und 2019 an mehr als 400 Stellen in ganz Bayern jeweils von Frühjahr bis Herbst sogenannte Malaise-Fallen aufgestellt und mit zahlreichen Helfern regelmäßig geleert. Die Probestellen deckten vom Allgäu über Berchtesgaden bis in die Rhön die unterschiedlichsten Lebensräume ab, darunter Sandrasen und alpine Rasen, Hoch- und Niedermoore oder alte Wälder. Die Ausbeute lässt sich nur grob schätzen. Doch sie ist gigantisch, erklärt Doczkal: „In Schweden haben Kollegen aus einem Teil ihrer Proben die Tiere tatsächlich gezählt und davon auf den gesamten Fang hochgerechnet. Sofern sich in unseren Fallen vergleichbar viele Insekten verfangen, haben wir es bei 400 Fallen mit rund 100 Millionen Individuen zu tun“.
Diese unvorstellbare Zahl an Organismen wartet nun, in 80-prozentigem Alkohol konserviert, auf ihre wissenschaftliche Bearbeitung. Dieter Doczkal hat bereits einige Millionen Fliegen und Mücken aus den Proben aussortiert, zunächst ohne sie einer Art zuzuordnen. Dabei fand er schon im ersten Jahr von einigen Dipteren-Familien mehr Arten und Individuen, als die ZSM in den zwei Jahrhunderten zuvor eingelagert hatte. Bis heute wurden etwa 200.000 Fliegen und Mücken aus dem Gesamtfang bis zur Art bestimmt und rund 45.040 davon sequenziert. „Dennoch ist es uns leider nicht gelungen, alle aus Bayern bekannten Arten zu erfassen, weil der Arbeitsaufwand unsere Kapazitäten weit übersteigt“, so der Wissenschaftler.
Immerhin lassen sich von den landesweit gefangenen Dipteren nun rund 5.200 Arten aus 88 Familien anhand ihrer Gensequenzen unterscheiden. 2.453 dieser Arten sind den Biologen namentlich bekannt; die übrigen Arten haben sie mit vorläufigen Bezeichnungen belegt, die auf der genetischen Abgrenzung der Arten basieren. „Wir gehen davon aus, dass auch die meisten dieser noch namenlosen Arten bereits wissenschaftlich beschrieben sind. Doch ihre Bestimmung ist derart schwierig, dass sie nur von wenigen Experten geleistet werden kann“, sagt Dieter Doczkal und nennt als Beispiel die Gallmücken: „Vor 20 Jahren waren allein von dieser Gruppe 834 Arten bekannt. Heute gibt es in ganz Deutschland niemanden mehr, der sie bestimmen kann. Das gleiche Problem haben wir bei jeder dritten Dipteren-Familie.“
Doch selbst die „genetischen Arten ohne Namen“ erweisen sich schon jetzt als effektive Referenz-Bibliothek für die Untersuchung kaum bekannter Gruppen. „Es kann zum Beispiel sein, dass die Gensequenz einer noch nicht identifizierten Art stets zu bestimmten Zeiten oder nur in bestimmten Biotopen auftaucht. Sobald ein Experte verfügbar ist und sie nachträglich bestimmt, können wir dem schon bekannten Barcode den richtigen Namen zuordnen und haben dann auf einen Schlag diese vielen Informationen dazu“, erläutert der ZSM-Forscher. Deshalb sei es so wichtig, die Barcode-Bibliothek aller bayerischen Dipterenarten zu komplettieren.
Um das Projekt voranzutreiben und die Barcode-Bibliothek aller bayerischen Dipterenarten zu komplettieren, sollen ab Sommer 2020 weitere Malaise-Fallen aufgestellt werden. Wichtiger Partner der ZSM ist das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU). Vor allem von entlegenen Probestellen, etwa in den Alpen, erhoffen sich die Forscher jede Menge neuer Daten. Zu Recht, wie die Auswertung der 2018 aufgestellten Fallen zeigt: „Wir haben jetzt schon 60 Erstnachweise für Deutschland nur von der Zugspitze“, berichtet Dieter Doczkal. Von Naturschützern komme immer wieder Kritik an den massenhaften Insektenfängen mittels Malaise-Fallen, berichtet der Experte – und hält dagegen: „Wir fangen in einer Falle im ganzen Jahr nicht mehr Insekten, als ein oder zwei Vogel-Brutpaare an ihre Jungen verfüttern. Die Naturschützer sollten einsehen, dass diese Fänge notwendig sind. Nur so kommen wir voran bei der Erforschung der heimischen Insektenfauna.“
Gerade der Naturschutz könnte davon profitieren. So ließe sich etwa das Monitoring stark vereinfachen: „Angenommen, man will die Auswirkungen unterschiedlicher Pflegeregime in einem Schutzgebiet auf die Insektenfauna untersuchen. Heute braucht man dazu Experten, die sich mit bestimmten Insektengruppen wie Laufkäfern oder Libellen auskennen. Das kostet viel Zeit und Geld.“ Mit dem Barcode hätte man die Möglichkeit, in kürzester Zeit zigtausend Insekten bestimmen zu lassen, so der Biologe: „Man nimmt die gesamte Probe, schickt sie durchs Meta-Barcoding und hat binnen Tagen die gesamte Artenliste. Das setzt aber voraus, dass diese Code-Bibliothek möglichst vollständig ist. Denn im Naturschutz betrachtet man ja genau die seltenen Arten, die man schützen will. Und gerade diese seltenen Arten fehlen im Moment noch in den Bibliotheken.“
Mehr:
MORINIERE, J. et al. (2019): A DNA barcode library for 5,200 German flies and midges (Insecta: Diptera) and its implications for metabarcoding‐based biomonitoring. – Molecular Ecology Resources, Band 19: 900–928; https://doi.org/10.1111/1755-0998.13022.
Offenberger, M. (2020): Bayerns Fliegen und Mücken sind weitgehend unerforscht. – ANLiegen Natur 42/2; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/namenlose-insekten/.
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ANLiegen Natur 42/2 (2020): 8 Seiten als Volltext herunterladen (pdf barrierefrei 0,6 MB).