Bundesweites Monitoring belegt hohe Pestizidbelastung von Kleingewässern
(Monika Offenberger) Pestizide aus der Landwirtschaft stellen die größte Bedrohung der Biodiversität in kleinen Fließgewässern dar. Zudem wird durch die bisher praktizierte Messmethode das Ausmaß der Belastung systematisch unterschätzt. Dies ist das Fazit einer Analyse, die erstmals behördliche Daten aus allen Flächen-Bundesländern einbezieht. Ab 2018 soll ein einheitliches Monitoring die reellen Schadstoffkonzentrationen und deren Wirkung auf die Biodiversität erfassen. Wie erste Ergebnisse zeigen, überschreiten Agrochemikalien in jedem zweiten untersuchten Fließgewässer die gesetzlich festgelegten Grenzwerte.
Wie stark beeinträchtigen Agrochemikalien die Biodiversität in deutschen Kleingewässern? Lässt sich die Belastung anhand der amtlichen Messdaten abschätzen oder ist dazu ein eigenes Monitoring notwendig? Um diese Fragen zu klären, erfolgte im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans zur nachhaltigen Anwendung von Pestiziden“ eine Bestandsaufnahme zur derzeit gängigen Datenerhebung. Dazu trugen Wissenschaftler der Bundesanstalt für Gewässerkunde in Koblenz (BfG), des Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ), der Universität Koblenz-Landau sowie des Umweltbundesamtes (UBA) alle im Zeitraum 2005 bis 2015 erfolgten Messungen zusammen. Der so gewonnene Datensatz umfasst mehr als 1,7 Millionen Einzelmessungen in 24.743 Schöpfproben aus 2.301 Probestellen; darin waren 478 unterschiedliche Pestizide und ihre Abbauprodukte mindestens einmal nachgewiesen worden. Zudem wurde untersucht, ob und wie die Schadstoffbelastung vom Einzugsbereich der jeweiligen Kleingewässer von Art und Ausmaß der landwirtschaftlichen Nutzung und von der Höhe der Niederschläge beeinflusst wird.
Die Studie, die 2017 in der Fachzeitschrift „Environmental Science & Technology“ veröffentlicht wurde, zeichnet ein düsteres Bild vom Zustand unserer Kleingewässer. Betrachtet wurden Fließgewässer mit einem Einzugsgebiet unter 100 km2; der Großteil der Messdaten stammt aus Bächen und kleinen Flüssen mit einem Einzugsgebiet von 10 bis 25 km2. In 26 % aller untersuchten Fließgewässer werden die gesetzlich festgeschriebenen Grenzwerte – englisch: regulatory acceptable concentrations, kurz RAC – überschritten. An Probestellen neben landwirtschaftlich genutzten Flächen sind RAC-Überschreitungen im Mittel 3,7-mal so häufig wie neben anderweitig genutzten Flächen. Die höchsten Pestizidkonzentrationen treten zwischen April und Juni auf, also in der Wachstumsperiode von Feldfrüchten. Nach Starkregen geschöpfte Wasserproben enthalten deutlich öfter Pestizidmengen oberhalb der RAC-Werte als bei Schönwetter genommene Proben. Am häufigsten finden sich Herbizide (179 Wirkstoffe), gefolgt von Insektiziden (117) und Fungiziden (109); die höchsten Konzentrationen weisen zwei Klassen von Insektiziden, die Neonicotinoide und Chlorpyrifos, auf.
„Unsere Analysen zeigen, dass die Jahreszeit und die Witterung ausschlaggebend dafür sind, welche Pestizidkonzentrationen man in den Wasserproben vorfindet“, fasst Prof. Ralf B. Schäfer von der Universität Koblenz-Landau das Fazit der Studie zusammen. Weil die amtliche Datenerhebung in der Regel nicht nach Regenereignissen erfolgt, werde die Pestizidbelastung generell unterschätzt, so Schäfer: „Dass wir selbst in diesen Wasserproben, die bei gutem Wetter genommen wurden, 26 % RAC-Überschreitungen finden, ist alarmierend.“ Tatsächlich ist seit langem bekannt, dass Pestizide vermehrt durch Niederschläge in die Gewässer eingetragen werden. „Bei Starkregen können die Schadstoff-Konzentrationen um Faktor 1.000, 10.000 oder noch mehr erhöht sein. Deshalb brauchen wir dringend ein einheitliches Monitoring, das an Regenereignisse geknüpft ist“, betont Prof. Matthias Liess, Leiter der Abteilung System-Ökotoxikologie am Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ.
2018 wurden Matthias Liess und zahlreiche weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom UBA mit dem Aufbau eines aussagekräftigen Monitorings zur Belastung von Kleingewässern in der Agrarlandschaft beauftragt. Inzwischen wurden in allen Flächenbundesländern insgesamt 70 ausgewählte Kleingewässer mit automatischen Probenehmern ausgestattet, die stets und ausschließlich während starker Niederschläge aktiv werden. „Wenn durch den Oberflächenabfluss der Wasserstand im Fluss kurzfristig steigt, pumpt der Probennehmer selbstständig ein paar Stunden lang eine Wasserprobe. Wir werden per SMS benachrichtigt und fahren sofort raus, um die Probe zu analysieren. Das ist zwar extrem aufwendig, aber nur so bekommen wir die reellen Pestizidkonzentrationen im Gewässer“, erklärt Matthias Liess. Die Gewässer wurden von April bis Juli beprobt, weil in dieser Zeit die meisten Insektizide und Herbizide ausgebracht werden. Neben den Agrochemikalien werden auch Algen und kleine Tiere wie Eintagsfliegen, Libellen, Schnecken und Krebse in den Wasserproben untersucht: „Denn die Frage ist ja nicht nur, welche Schadstoffkonzentrationen sind in unseren Flüssen, sondern wie wirken sie auf die Organismen, die darin leben?“
Die Leipziger Umweltforscher haben ihre Methode bereits 2005 an ausgewählten Fließgewässern bei Braunschweig und Leipzig erprobt. Dabei fanden sie, dass die dort ins Wasser eingetragenen Pestizide sogar schon unterhalb der RAC aquatische Insekten und andere wirbellose Tiere schädigen und die Biodiversität verringern. Auch eine 2013 publizierte Studie in deutschen, französischen und australischen Gewässern belegt dramatische Effekte von Pestiziden: Auf beiden Kontinenten ging die Zahl regionaler Arten und Familien von wirbellosen Wassertieren je nach Taxon bis zu 42 % zurück. Die negativen Effekte traten schon bei Pestizidkonzentrationen auf, die in Europa unterhalb der RAC lagen. „Das ist äußerst bedenklich, denn die gesetzlichen Grenzwerte sind ja eigentlich so gewählt, dass darunterliegende Konzentrationen keine negativen Effekte haben sollten“, betont Matthias Liess. Erste Ergebnisse des 2018 begonnenen bundesweiten Monitorings deuten in dieselbe Richtung, so Liess: „Wir finden RAC-Überschreitungen etwa in jedem zweiten Gewässer und sehen deutliche Effekte auf die Wirbellosen. Unter den Insektiziden scheinen Pyrethroide und Neonicotinoide die größte Rolle zu spielen. Insgesamt sehen wir, dass einerseits die Belastung sehr oft höher ist als vom Gesetz erlaubt. Andererseits erweist sich die derzeitige Risikobewertung als falsch, weil auch Belastungen die unter den Grenzwerten liegen die aquatischen Lebensgemeinschaften schädigen.“
Diese Erkenntnisse zeigen einmal mehr die dramatischen Folgen des massiven Pestizideinsatzes für die heimische Artenvielfalt. „Die konventionelle landwirtschaftliche Pflanzenschutzpraxis hat einen Punkt erreicht, an dem wichtige Ökosystemfunktionen und Lebensgrundlagen ernsthaft in Gefahr sind“, konstatiert eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem Diskussionspapier, das kürzlich von der Nationalen Leopoldina in Buchform veröffentlicht wurde. Das Buch enthält neben Handlungsempfehlungen für einen umweltverträglicheren Pflanzenschutz auch ein ausführliches Verzeichnis relevanter Studien zur Wirkung von Pestiziden auf aquatische und terrestrische Lebensgemeinschaften.
Mehr:
Beketov, M. A. et al. (2013): Pesticides reduce regional biodiversity of stream invertebrates. – Proceedings of the National Academy of Sciences 110(27):11039–11043; https://doi.org/10.1073/pnas.1305618110.
Liess, M. & von der Ohe, P. C. (2005): Analyzing effects of pesticides on invertebrate communities in streams. – Environmental Toxicology & Chemistry 24(4):954–965; https://doi.org/10.1897/03-652.1.
Szöcs, E. et al. (2017): Large Scale Risks from Agricultural Pesticides in Small Streams. – Environmental Science & Technology 51(13), doi: 10.1021/acs.est.7b00933: 7378–7385.
Schaeffer, A. et al. (2018): Der stumme Frühling – Zur Notwendigkeit eines umweltverträglichen Pflanzenschutzes. – doi: 10.1021/acs.est.7b00933 (13): 7378–7385.
Offenberger, M. (2019): Bundesweites Monitoring belegt hohe Pestizidbelastung von Kleingewässern. – ANLiegen Natur 41/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/pestizide_kleingewaesser/.
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ANLiegen Natur 41/1 (2019): 8 Seiten als Volltext herunterladen (pdf barrierefrei 0,6 MB).