Windenergie und Vögel – Sind die Abstandsempfehlungen der Vogelschutzwarten verbindlich einzuhalten?
(PBN) Die aktualisierten „Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten“ der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG VSW 2014) wurden in einem Gutachten im Auftrag der Fachagentur Windenergie an Land (FA Wind) in Hinblick auf ihre rechtliche Bindungswirkung untersucht und bewertet (SCHLACKE & SCHNITTKER 2015). Bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen sind die Empfehlungen als naturschutzfachlicher Beitrag zu berücksichtigen. Sie ersetzen jedoch nicht die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative der Naturschutzbehörden. Bei der Bewertung der Verbotstatbestände nach § 44 Absatz 1 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) werden Vor-Ort-Untersuchungen im Regelfall vorzugswürdig sein, sodass eine Anpassung der empfohlenen Abstände möglich ist.
Mit der Veröffentlichung der ersten Abstandsempfehlungen im Jahr 2007, dem sogenannten „Helgoländer Papier“, hat die LAG VSW eine wichtige Planungs- und Genehmigungshilfe für einen naturverträglichen Windenergieausbau geliefert. Die Empfehlungen wurden nach und nach in die Erlasse und Leitfäden der Länder aufgenommen und fanden breite Anwendung. Da Erlasse eine Bindungswirkung für die Zulassungsbehörden entfalten, wurde in sämtlichen Verwaltungsvorschriften der Länder der Empfehlungscharakter der Abstände betont, um weiterhin eine Einzelfallbeurteilung zu ermöglichen. Dennoch wird in der Planungs- und Genehmigungspraxis vielfach die strikte Einhaltung der Abstände gefordert, ohne die naturräumlichen Bedingungen vor Ort zu berücksichtigen. Das „Helgoländer Papier“ hat damit eine quasi faktische Bindungswirkung entfaltet.
Nun wurde das „Helgoländer Papier“ fortgeschrieben. Anhand von Literaturauswertungen und Experteneinschätzungen wurde die Artenliste der als störungssensibel oder kollisionsgefährdet eingestuften Vogelarten aktualisiert und die Abstandsempfehlungen angepasst. Die Herleitung der Abstände durchlief dabei keinen „demokratischen Legitimationsprozess“ (Schlacke & Schnittker 2015). Allerdings wurde die Fortschreibung durch die Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA) bestätigt und in der Amtschefkonferenz (ACK) der Umweltministerien der Länder zur Kenntnis genommen. Die Befassung dieser beiden Gremien mit dem neuen Papier weist auf seine hohe praktische Bedeutung hin – sie lässt aber keinen Rückschluss auf die rechtliche Bindungswirkung der Empfehlungen zu.
Werden die Abstandsempfehlungen unterschritten, kann hieraus nicht pauschal eine Unzulässigkeit des Vorhabens abgeleitet werden. Selbst wenn die Empfehlungen in die Erlasse der Länder Eingang finden, bedeutet dies nicht, dass die Abstände strikt einzuhalten sind. Auch entbindet dies die Planungsträger und Behörden nicht von der Einzelfallprüfung, denn die tatsächlich erforderlichen Abstände können größer oder kleiner sein. Allerdings werden erhöhte Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung und –beurteilung gestellt, um die Abstandsempfehlungen zu unterschreiten. Schlacke & Schnittker weisen hier auf eine Indizwirkung der Abstandsempfehlungen hin. Das heißt, dass ein geringerer Abstand auf Konflikte mit den Verbotstatbeständen nach § 44 BNatSchG hindeuten kann. Umgekehrt ist jenseits der Abstände grundsätzlich von einer Zulässigkeit auszugehen, sofern Vor-Ort-Erhebungen keine andere Bewertung erforderlich machen.
Bedeutung für die Praxis
Aus dem Rechtsgutachten von Schlacke & Schnittker (2015) lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen, die zur Einordnung der Empfehlungen des „Helgoländer Papiers“ bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen als Orientierung dienen können:
- Die Empfehlungen sind als naturschutzfachlichen Beitrag zu berücksichtigen.
- Ein vollständiges Außerachtlassen ist nur möglich, „wenn ersatzweise konkrete gutachterliche Aussagen beziehungsweise insgesamt eine eigene hinreichende Sachverhaltsermittlung durch die Behörde stattgefunden hat.“
- Raumnutzungsanalysen, kartierte Flugbewegungen oder Raumfunktionsanalysen sind bei der Beurteilung der Verbotstatbestände vorzuziehen – pauschale Abstandsempfehlungen treten hier stets zurück.
- Vermeidungs- oder Minderungsmaßnahmen sind bei der Beurteilung der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände zu berücksichtigen und können eine Unterschreitung der empfohlenen Abstände rechtfertigen.
Aus den genannten Gründen sollte auch ein vorzeitiger Ausschluss von Potentialflächen im Rahmen der Regional- oder Bauleitplanung auf Grundlage der Abstandsempfehlungen vermieden werden. Auf dieser Maßstabsebene können die Anforderungen an eine dezidierte Sachverhaltsermittlung nicht ausreichend erfüllt werden. Vielmehr bietet sich in der Raumplanung der Ausschluss von Schwerpunktlebensräumen an, da davon auszugehen ist, dass hier artenschutzrechtliche Verbote einer Projektrealisierung grundsätzlich entgegenstehen (Nagel et al. 2014). Zur planerischen Beurteilung der Abstandsempfehlungen hat der Arbeitskreis Erneuerbare Energien und Naturschutz beim Bundesverband Beruflicher Naturschutz eine Stellungnahme verfasst (BBN 2015).
Mehr:
Bundesverbandes Beruflicher Naturschutz e.V. (BBN, 2015): Das „Neue Helgoländer Papier“ in der planerischen Praxis. – BBN-Mitteilungen 55: 24.
Landesamt für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz Brandenburg (LUGV, 2015): Informationen über Einflüsse der Windenergienutzung auf Vögel; www.lugv.brandenburg.de/media_fast/4055/vsw_dokwind_voegel.pdf.
Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG VSW, 2014): Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten. – Berichte zum Vogelschutz 51: 15–42; www.vogelschutzwarten.de/downloads/lagvsw2015_abstand.pdf.
Nagel, P.-B., Schwarz, T. & Köppel, J. (2014): Ausbau der Windenergie – Anforderungen aus der Rechtsprechung und fachliche Vorgaben für die planerische Steuerung. – UPR 10/2014: 371–382.
Schlacke, S. & Schnittker, D. (2015): Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten. – Gutachterliche Stellungnahme zur rechtlichen Bedeutung des Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemeinschaft der Staatlichen Vogelschutzwarten (LAG VSW 2015), herausgegeben von der Fachagentur Windenergie an Land; www.fachagentur-windenergie.de/aktuell/detail/rechtsgutachten-zum-helgolaender-papier-1.html.
Zitiervorschlag: Nagel, P.-B. (2016): Windenergie und Vögel – Sind die Abstandsempfehlungen der Vogelschutzwarten verbindlich einzuhalten? – ANLiegen Natur 38/1; www.anl.bayern.de/publikationen/anliegen/meldungen/wordpress/Windenergie_voegel/.