Wildnis als Kulturaufgabe
Tagung zur Zukunft von Wildnis im Naturschutz in Freising
Eine Kooperationsveranstaltung der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) und des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München (TUM)
Wildnis als Kulturaufgabe – was bedeutet das und wie kann der Naturschutz diese Aufforderung umsetzen? Und warum soll gerade Wildnis in Zeiten von Ressourcenverknappung, fortschreitender Globalisierung, demographischem und Klimawandel in der Landschaftsentwicklung Konjunktur haben? Diesen Fragen wurde auf der Tagung „Wildnis als Kulturaufgabe“, die die Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Landschaftsökologie der Technischen Universität München in Freising veranstaltete, nachgegangen.
Etwa 110 Teilnehmer, neben etablierten Fachleuten und engagierten Nachwuchswissenschaftlern auch einige Studenten, beschäftigten sich vom 8. bis 9. Dezember 2008 auf dem Domberg Freising im Kardinal-Döpfner-Haus mit diesen Fragen. Dem Thema angemessen, kamen Vertreter aus unterschiedlichen Bereichen zusammen: aus Naturschutz- und Nationalparkverwaltungen, Verbänden und Wissenschaft. Vertreten war ein breites Spektrum an Disziplinen, von den Kultur- und Politikwissenschaften über die Germanistik bis hin zur Ökologie sowie der Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung.
In den 1990er Jahren rückte man im Naturschutz erstmals von traditionellen, statisch konservierenden Schutzkonzepten ab. Seit dieser Zeit werden Leitideen diskutiert, die auf eine ungelenkte Entwicklung von Natur abzielen. In diesem Zusammenhang entstand die Forderung, die Dynamik der Natur zuzulassen und weitgehend unkontrollierte Prozesse zu schützen. Dieses „Natur Natur sein lassen“ solle so zu „Wildnis“ führen. Diese Leitkonzepte schienen zunächst nur für Kernzonen von Nationalparken zu passen. Doch mittlerweile wird auch für andere Naturschutzgebiete mit dem Schlagwort Wildnis geworben, auch wenn viele dieser Gebiete eigentlich von jahrhunderte langer Nutzung geprägte Kulturlandschaften sind. Jüngst wird „Wildnisschutz“ in Deutschland auch in der bundesweiten Biodiversitätsstrategie thematisiert. – Wildnis ist sichtlich „in“. Das zeigt sich auch alltagsweltlich, beispielsweise am gesteigerten Interesse an Outdoorsportarten und Abendteuerurlauben; Trekkingkleidung ist alltagstauglich geworden, Geländewagen prägen das Bild des Stadtdschungels.
Was Wildnis aber eigentlich ist, wie sie daher zu schützen ist und welchen Nutzen oder Wert sie für Menschen haben kann, blieb dabei oft bemerkenswert unklar. Um Klarheit in diese Fragen zu bringen, veranstaltete die ANL bereits Ende der 90er Jahre zwei Tagungen zum Thema Wildnis: „Wildnis – ein neues Leitbild“ und „Schön wild sollte es sein". An die Diskussionen und Ergebnisse dieser Tagungen wurde nun angeknüpft. Dazu holte sich die ANL mit dem Lehrstuhl für Landschaftsökologie der TU München zum ersten Mal einen Kooperationspartner ins Boot, der seit Jahren auf wissenschaftstheoretisch fundierte Art und Weise die Begründungen von Naturschutzzielen und Landschaftsschutzkonzepten und insbesondere vom Leitgedanken Wildnis zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit macht. In diesem Sinne verweist der Titel der Veranstaltung „Wildnis als Kulturaufgabe“ darauf, dass „Wildnis“ als kulturell konstituierter Gegenstand kulturwissenschaftlich betrachtet werden muss. Dezidiert kulturwissenschaftlich war daher die Ausrichtung der Vorträge in den vier thematischen Blöcken „Wildnis und Ökologie“, Wildnis und Nationalparks“, „Wildnis und Landschaft“ sowie „Wildnis und wilderness“.
Der Einführungsvortrag des Lehrstuhlinhabers Prof. Dr. Ludwig Trepl steckte das programmatische Feld der Tagung ab: Die Idee „Wildnis“, so die Hauptthese, sei einer naturwissenschaftlich-ökologischen Logik nicht zugänglich. Das bedeute jedoch nicht, dass sich „Wildnis“ einer wissenschaftlichen Betrachtung überhaupt entziehe. Es seien nur eben andere Wissenschaften zuständig, nämlich die Kultur- und Geisteswissenschaften. Der Ökologie seien konstitutiv Fragen der Ästhetik einer Landschaft oder ihrer kulturellen Bedeutung verschlossen. Zur Beantwortung beispielsweise der Frage, welche Landschaft als schön oder auch als Heimat empfunden werde, führten die bisher im Naturschutz gängigen ökologischen Argumente nicht weiter.
Dr. Annette Voigt vom Lehrstuhl für Landschaftsökologie verdeutlichte in Ihrem Vortrag ebenfalls, dass Wildnis als kulturelle Idee mit ökologischen Begriffen, auch dem des „dynamischen Ökosystems“, nicht angemessen beschrieben werden könne, weil „Wildnis“ und „Ökosystem“ kategorial verschiedene Begriffe seien. Aber selbst, wenn man den Begriff des Ökosystems daraufhin analysiert, welche Vorstellung von Natur er impliziert, zeige sich deutlich der Gegensatz zu Naturvorstellung, die sich mit „Wildnis“ verknüpften: Während diese Unkontrolliertheit und Unverfügbarkeit bedeute, verbinde sich mit jener die Ideen von Beherrschbarkeit und (technischer) Verfügbarkeit.
Ursula Schuster von der ANL analysierte in ihrem Vortrag die für das Thema Wildnis wesentliche Naturschutzstrategie Prozessschutz. Bei dieser solle durch das Laufenlassen von natürlichen Abläufen Wildnis geschützt und geschaffen werden. Sie zeigte, dass es auch bei dieser scheinbar ergebnisoffenen und dynamischen Naturschutzbegründung letztlich um die Frage gehe, welche kulturell tradierten, durch Eigenart geprägten Bilder von Natur „erzeugt“ werden sollten – in ähnlicher Weise, wie bei eher konservierenden bisherigen Naturschutzauffassungen.
Den Auftakt des zweiten Blocks, der das Verhältnis von Wildnis und Nationalparken auslotete, bildete der Vortrag von Karl Friedrich Sinner, Direktor der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald. Er präsentierte in seinem Vortrag eindrücklich, wie das Konzept „Natur Natur sein lassen“ in diesem Nationalpark umgesetzt und vermittelt wird. Hier könnten die Menschen erfahren, wie sich die Natur ohne Lenkung und ohne Eingriffe entwickelt. Seit der Erweiterung des Nationalparks vor 12 Jahren, bei der sich die konträren Positionen zum Leitgedanken des ungesteuerten „Laufenlassen“ des Naturgeschehens deutlich zeigten, sei, so Sinner, ein Wandel hin zur Akzeptanz der Waldwildnis sowohl bei Besuchern als auch bei der ansässigen Bevölkerung zu bemerken. Die Gewöhnung an den neuen Charakter des Bayerischen Waldes und die dafür nötige Zeit sei dabei entscheidend. Die Bildungsarbeit im Nationalpark setzt dabei weniger auf wissenschaftliche Belehrungen und Fakteninformation als vielmehr auf Emotionen.
Kritisch und pointiert provokant hinterfragte der Berliner Journalist und Publizist Wieland Elfferding die Konzepte unterschiedlicher Nationalparke. Er kritisierte die „Simulation“ von Wildnis in Nationalparken, indem er ein breites Spektrum an Aspekten ansprach, die für die Idee der Wildnis konstitutiv sind. So spürte er beispielsweise erstens dem Verhältnis von innerer und äußerer Wildnis und der Verdrängung der eigenen Menschennatur nach und er verwies zweitens auf das Dilemma der Nationalparke und die Dialektik des Wilden, dass die Nationalparke nämlich durch die Unterschutzstellung der Wildnis diese der Zivilisation einverleibe und dadurch gerade die eigentliche Wildnis zerstöre.
Den Abschluss des ersten Tages bildete die Vorstellung eines Projektes des Bayerischen Umweltministeriums in Kooperation mit dem Bayerischen Staatsballett. Die Initiatoren und Organisatoren von „Ballett und Wildnis“, Hans-Dieter Schuster und Till Meyer, erläuterten die Konzeption und Entstehungsgeschichte des Projektes, dessen Faszination auf dem starken Kontrast der äußerst artifiziellen Form der Kunst, dem klassischen Balletttanz, und der ungebändigten und spontanen Natur der Nationalparke beruht.
Zu Beginn des zweiten Tages der Tagung standen Fragen der Wahrnehmung(sgeschichte) und Ästhetik von (Kultur-) Landschaft und Wildnis im Vordergrund. Gerade an den historischen Analysen des Wildnisbegriffes zeigt sich deutlich die kulturelle Dimension dieser Idee: Denn welche Gegend als Wildnis angesehen und wie sie bewertet wird, hängt nicht primär von der physisch-materiellen Beschaffenheit und Ausstattung der Gegend ab, sondern essentiell von den kulturellen Bedeutungen, die sich mit dem jeweiligen Ort verbinden.
Prof Dr. Susanne Hauser von der Universität der Künste in Berlin eröffnete das dritte Themenfeld, indem sie die Geschichte der ästhetischen Wahrnehmung von Wildnis nachzeichnete. Wildnis sei immer schon ein spannungsvoller, ambivalenter Begriff gewesen, der einerseits ein Bedürfnis ausdrücke, und andererseits eine Kategorie der Historizität unseres Naturverhältnisses darstelle. Weiterhin thematisiert sie, ob zeitgenössische Wildnisbegriffe diese Ambivalenz durch eine einseitig positive Besetzung und Naturalisierung einebneten oder ob in der technisierten Moderne neue Spannungsfelder entstünden.
Dr. Antonia Dinnebier, freie Landschaftsarchitektin aus Wuppertal, zeigte am Beispiel der Sächsischen Schweiz, wie sich die Wahrnehmung wilder Landschaften historisch entwickelt hat und an welche Bedingungen die ästhetische Wertschätzung von Wildnis geknüpft ist. Sie erläuterte, dass und wie die Sächsische Schweiz als wilde Landschaft „entdeckt“ wurde, und dass diese Entdeckung als „Erfindung“, „Gestaltung“ und „Text“ zu interpretieren sei. Dies sei immer in bestimmte politische Zusammenhänge eingebettet bzw. verweise auf sie.
Gisela Kangler vom Lehrstuhl für Landschaftsökologie der TU München zeigte anhand des Bayerischen Waldes, dass die gesellschaftlichen, oft kontroversen, Diskussion um diese Gegend ganz wesentlich auf unterschiedlichen Ideen von Wildnis beruhten. Sie entwickelte mit Einblicken in die Bedeutungsgeschichten des Bayerischen Waldes der letzten Jahrhunderte drei Wildnisbegriffe: Wildnis als das nicht genauer bestimmbare Draußen, Wildnis als eine Landschaft und „Ökosystem-Wildnis“. Diese systematische Unterscheidung ordne die Bedeutungen und bringe damit, so Kangler, Orientierungswissen für Naturschutz und Landschaftsplanung im Bayerischen Wald.
Im vierten Themenblock wurde auf einen Zusammenhang eingegangen, der das Thema Wildnis im deutschen und europäischen Naturschutz in vielen Aspekten beeinflusst, nämlich auf die Idee und Rolle wilder Natur in den USA. Dieser wilderness wird oft eine Vorreiterrolle für Wildnis als Kulturaufgabe zugeschrieben, von der man in punkto Wildnisschutz zu lernen hofft.
Torsten Kathke vom Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München machte eindrucksvoll deutlich, dass sich die kulturellen Bedeutungen von wilderness im US-amerikanischen und Wildnis im deutschen Verständnis deutlich unterscheiden. Er zeichnet dazu überblicksartig die Rolle der wilderness in der Geschichte der USA vom 16. Jahrhundert bis heute nach. Er ging dabei auf verschiedene Aspekte und Ereignisse ein, wie die Inbesitznahme der virgin lands durch spanische und englische Eroberer, auf die Rolle der Indianer, das Vorrücken der frontier nach Westen, die zunehmende Besiedlung und Technisierung der Natur, die schließlich zu Wildnisschutzbewegungen führte und das heutige labile Gleichgewicht zwischen der Wertschätzung von (wilder) Natur und ihrer Nutzung als Ressource.
Anne Haß, Publizistin aus Berlin, referierte über drei der berühmtesten US-amerikanischen Wildnis-Kulturtheoretiker, nämlich Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoureau und Aldo Leopold. Sie erörterte, dass Wildnis in Amerika bereits zu Beginn der Diskussion um eine eigenständige amerikanische Kultur eine entscheidende Rolle spielte und dass sie im Verlauf dieser Diskussion zu einem wesentlichen Ort möglicher Sinnerfahrung stilisiert wurde. Fundiert zeigte sie, dass und wie diese Naturidee auf den Transzendentalismus, insbesondere auf das Denken von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, zurückgeführt werden kann.
Vera Vicenzotti vom Lehrstuhl für Landschaftsökologie stellte im abschließenden Vortrag Überlegungen dazu an, welche Konsequenzen es für die Internationalisierung des Wildnisschutzes hat, dass sich die Bedeutungen von Wildnis in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen unterscheiden. Dazu zeichnete sie schlaglichtartig nach, wie die US-amerikanische wilderness-Idee die internationalen Richtlinien der International Union for Conservation of Nature (IUCN) beeinflusst hat und wie diese wiederum auf die europäische und deutsche Ebene zurückwirken. Sie plädierte abschließend dafür, beim Schutz der Wildnis auf internationaler und nationaler Ebene die kulturelle Dimension des Wildnisbegriffs ernst zu nehmen.
Die Tagung zeichnete sich durch ihren konsequent kulturwissenschaftlichen Ansatz aus. Dass diesbezüglich (Forschungs-)Bedarf besteht, zeigte sich an vielen Diskussionen, die im Laufe der zwei Tage geführt wurden und bei denen es weniger um ökologische Fragen, sondern hauptsächlich um Fragen der Art ging, was für wen unter welchen Bedingungen Wildnis ist. Die Diskussionsatmosphäre war dabei erfrischend angenehm und respektvoll, aber keineswegs unkritisch. Häufig kreisten die Redebeiträge und Anmerkungen um die immer gleichen, weil für das Wildnisthema so zentralen Punkte: „Menschen rein“ versus „Menschen raus“, Bedeutung von Praxis und Theorie, Wildnis als eurozentrisches Konzept und die „Wildnis“ indigener Völker sowie die Frage, wie viel Einsamkeit Wildnis braucht und wie viel Belehrung sie verträgt. In mancher Hinsicht kam es dabei leider auch zu den bei „Wildnis“ immer wieder anzutreffenden Missverständnissen, beispielsweise ob „Wildnis“ nur ein subjektives Gefühl sei, das sich jeglicher Erklärung entziehe, oder ob sich das Wildniserleben nach bestimmten kulturellen Muster vollzieht, die analytisch aufgearbeitet werden können. Diese Verwirrungen konnten jedoch – und darin liegt ein großes Verdienst der Tagung – teilweise wenn auch nicht geklärt, so doch als solche erkannt und benannt werden.
Die angesetzten Themenblöcke deckten ein breites Spektrum ab und boten die Möglichkeit zur Diskussion vieler aktueller Fragen. Trotzdem zeigte sich, dass zwei Tage nicht im Ansatz ausreichen, um alle relevanten Fragen auch nur anzusprechen. Interessanterweise blieb beispielsweise das Thema der „neuen Wildnisse“, also die Diskussion um „Wildnis“ auf Stadtbrachen oder in Industriewäldern, vollkommen ausgeklammert. Weitere Tagungen, die an die Veranstaltung „Wildnis als Kulturaufgabe“ anknüpfen, sind also ebenso notwendig wie wünschenswert.
Zusammenfassung von Ursula Schuster (ANL), Gisela Kangler (TUM) und Vera Vicenzotti (TUM).
Bildnachweis:
- 1. Borkenkäferwald, Foto: Dr. Annette Voigt
- 2. Wimbachgries, Foto: Dr. Walter Joswig
- 3. Ursula Schuster von der ANL bei ihrem Vortrag, Foto: Hermann Netz
- 4. Prof Dr. Susanne Hauser von der Universität der Künste in Berlin bei ihrem Vortrag, Foto: Hermann Netz
- 5. Torsten Kathke vom Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München beim Vortrag, Foto: Hermann Netz
- 6. Borkenkäferwald, Foto: Dr. Walter Joswig
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